Gabe der Jungfrau
Sie zitterte am ganzen Körper, und das hatte nichts mit der Kälte zu tun. ›Wie konnte ich mich nur so gehen lassen?‹, haderte sie mit sich. ›Was wird er von mir denken? Eine Frau, die sich einem Mann an den Hals wirft, wird man für ein leichtes Mädchen halten! Liederlich würde Vater sie schimpfen.‹ anna Maria schämte sich. ›Ich werde Veit nie wieder küssen‹, schwor sie sich, bevor sie endlich Schlaf fand.
Am nächsten Morgen traute sich anna Maria nicht, Veit in die augen zu blicken. Er hingegen suchte ihre Nähe, sodass sie fürchtete, die anderen Bewohner könnten es bemerken. als Veit erneut neben ihr stand, zischte sie unbeholfen: »Lasst mich in Ruhe!« und verließ den Saal.
Als Veit aufblickte, sah er direkt in die augen seines Bruders.
Grimmig brüllte Johann: »Wage es nicht, Veit! Sonst werde ich vergessen, dass wir Brüder sind!«
Das ließ die Burgbewohner aufhorchen, doch sie verstanden den Sinn dieser Worte nicht. Gerhild hingegen ahnte den Grund für Johanns aufbrausen, doch es kümmerte sie nicht. Mit bleichem Gesicht und dunklen augenrändern schlich sie aus dem Saal.
Durch Johanns Gebrüll aufmerksam geworden, beobachtete der Wolfsjäger Hans aus sicherer Entfernung die beiden Brüder.
Veit spürte die Blicke des alten auf sich und ballte vor Zorn die Hände zu Fäusten. Nur zu gern hätte er ihm erneut die Nase gebrochen. Doch er wusste, dass er Ruhe bewahren musste, wenn er mit anna Maria die Burg unbemerkt verlassen wollte.
»Das Wetter bringt mich noch um!«, stöhnte Gerhild auf und hielt sich die Schläfen. Sie stand im Vorratskeller und zählte mit anna Maria die Kohlköpfe, um zu sehen, was nach den harten Wochen an Essen noch übrig war.
»Wann werden die Toten begraben?«, fragte anna Maria und blickte in den dunklen Teil des Vorratskellers, in den man die Leichen gelegt hatte. »auch wenn es hier unten immer noch eisig kalt ist, sie müssen endlich unter die Erde gebracht werden.«
Gerhild hielt inne und folgte ihrem Blick. »augustin hat versucht ein Loch auszuheben, doch der Boden ist noch immer knüppelhart gefroren. Selbst mit der Spitzhacke konnte er nichts ausrichten.«
Plötzlich würgte Gerhild und erbrach sich.
»Was hast du gegessen? Es gab doch nichts Grünes!«, fragte anna Maria erschrocken.
Gerhild wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Kannst du das nicht erkennen, Seherin?«, giftete sie und setzte sich ermattet auf ein Fass.
»Möchtest du einen Schluck Bier?«, fragte anna Maria mitfühlend und übersah bewusst Gerhilds Feindseligkeit.
Die schüttelte den Kopf und würgte erneut. »Bereits seit Wochen schlucke ich dieses Kraut, doch nun krampft mein Magen, sobald ich nur daran denke. Sicherlich habe ich zu viel davon genommen.«
»Ist es ein Heilkraut?«
»So etwas Ähnliches«, erklärte Gerhild vage. Um das Gespräch zu beenden, stand sie auf und sagte: »Lass uns nach oben gehen. Wir sind hier fertig.«
Zu anna Marias Freude regnete es zwei Tage ohne Unterbrechung, und es wurde wärmer. auf der Burg schmolz das Eis, und aus Schnee wurde Matsch. Doch in den Tälern verwandelte sich jedes Bächlein in einen reißenden Fluss, da der hartgefrorene Boden das viele Wasser nicht aufnehmen konnte. Riesige Wasserflächen verwandelten Wiesen, Äcker und Weiden in eine Seenlandschaft.
Nachdenklich stand Veit an der Burgmauer. Er blickte ins Tal, das mit braunem Wasser getränkt schien, als Hans und Karius sich zu ihm gesellten. Veit tat, als habe er sie nicht bemerkt.
»Horch, was ich dir sage!«, sprach Hans ihn an. »Ich weiß, was du mit der Kleinen vorhast, doch ich werde dich finden, denn ich bin der Beste im Spurenlesen!«
»Dann hör du mir jetzt genau zu, Mistkerl! Solltest du mir oder anna Maria zu nahe kommen, werde ich dich umbringen.«
Hans lachte laut auf. »Schon wieder eine Drohung!« Blitzschnell fuhr Veits Faust nach vorne und traf Hans auf der Nase, was diesen sogleich aufheulen ließ. Dann wandte sich Veit an Karius, der ängstlich zurückgewichen war. »Und dir Dummkopf
schneide ich ohne Vorwarnung die Kehle durch, solltest du mir oder der Frau im Wege stehen.«
Mit diesen Worten drehte er um und ging zurück in die Burg. Es war höchste Zeit! Sie durften keine weiteren kostbaren Tage mehr vergeuden.
Ohne Vorwarnung weckte Veit anna Maria mitten in der Nacht und gab ihr ein Zeichen, sich leise anzukleiden und den Pilgerstab und den Umhang mitzunehmen. Schweigend folgte sie ihm nach draußen. als
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