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Gabun - Roman

Gabun - Roman

Titel: Gabun - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meinrad Braun
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oder? Außerdem existieren sie schon sehr lange, viel länger als wir. Also müssen sie ja irgendetwas richtig gemacht haben, oder?«
    Ich überlegte, ob ich mich darauf einlassen sollte.
    »Sie haben uns einiges voraus«, sagte ich. »Sie existieren in unterschiedlichen Formen. Als Larve, als Puppe und als fertiges Insekt. Dabei adaptieren sie sich an verschiedene Lebensräume, an Wasser, an unterirdische Regionen, an die Luft. Sie verfallen in Kältestarre über den Winter, sie vertragen enorm viel Hitze, und in ihrer endgültigen Form leben sie dann manchmal nur noch für ein paar Tage. Gerade lange genug, um sich fortzupflanzen. Das Entscheidende, was anders ist an ihnen, also körperlich, ist, dass sie nicht wie wir daran gebunden sind, eine definierte Gestalt zu besitzen. Sie sind Gestaltwandler. Sie haben verschiedene Identitäten, wenn Sie so wollen.«
    »Identitäten?«
    »Na ja, sie verwandeln sich ein paarmal. Wir sind Ei und Embryo, danach wachsen wir kongruent, wir verwandeln uns nicht mehr. Ein Insekt ist Ei, Larve, Puppe und Imago, so heißt das fertige Tier. Aber was ist fertig? Die Larve eines Schmetterlings lebt ein paar Monate, die Puppe überwintert, aber mancher fertige Schmetterling stirbt ein paar Wochen, nachdem er geschlüpft ist. Manche Schmetterlinge haben gar keine Fresswerkzeuge. Sie paaren sich, und sie sterben.«
    »Sie wollen sagen, dass wir anderen Tiere zu viel Wert darauf legen, eine eigene Individualität und ein langes Leben zu haben?«
    Touché, hätte ich jetzt gesagt, wenn ich De Vries’ Vokabular verwenden würde.
    »So ungefähr«, sagte ich. »Wir wissen von frühester Kindheit an, dass wir ständig in Gefahr sind. Wir haben eigentlich immer Angst, das dürfte den Preis für unser Ich-Bewusstsein darstellen, das wir den Tieren nicht zugestehen wollen. Und wir vernichten unsere Ressourcen, um uns ein bisschen sicherer zu fühlen, und im Großen und Ganzen funktioniert es nicht einmal.«
    »Sollte man anders leben? Ist es das, was wir von den Insekten lernen können, Herr Jesper?«
    »Ich weiß nicht, wie man besser lebt. Ich möchte jedenfalls nicht leben wie ein Insekt, so viel kann ich sagen.«
    De Vries sah zu Saffkin hinüber, der in den Nachthimmel hinaufstarrte. Nicht festzustellen, ob er zuhörte. Er reagierte nicht, vielleicht war er bereits eingeschlafen.
    »Ich auch nicht«, wandte sich De Vries mir wieder zu. »Aber dennoch. Mir scheint, dass die Insekten im Unterschied zu den anderen Tieren, um die man sich inzwischen Sorgen machen muss, ganz gut ohne fremde Hilfe zurechtkommen. Sie sind erfolgreicher im Kampf ums Dasein, nicht wahr?«
    »Es kommt darauf an, wie man Erfolg definiert.«
    »Das ist wahr, was ist Erfolg? Ihre schöne Kollegin hat uns vorhin klargemacht, dass Erfolg mit Anstand einhergehen sollte. Glauben Sie das auch, Herr Jesper?«
    Ich zuckte mit den Achseln, ich hatte keine Lust, mich auch noch in die Nesseln zu setzen.
    »Unsere Vorfahren, die Buren«, fuhr De Vries fort, »die glaubten, dass es auch umgekehrt funktioniert. Dass es gut und anständig ist, wenn man Erfolg hat.«
    Er lachte. Ich hätte sagen können, dass es sicher Studien gab, die belegten, dass anständige Leute, vielleicht wenn sie dazu noch weiße Hautfarbe besaßen und von frommen protestantischen Emigranten abstammten, erfolgreicher waren als andere Amerikaner, ohne dass man dazu noch die Schuhgröße bemühen musste.
    »Und Sie, Sascha«, sagte De Vries, »was meinen Sie dazu?«
    Saffkin, da war ich sicher, interessierte sich nicht für Insekten. Wahrscheinlich kamen sie in der russischen Literatur nicht vor. Sie produzieren außer Seide und Honig auch nichts Verkäufliches.
    »Man ruiniert sich«, sagte Saffkin nach einer Weile, schlief also doch noch nicht. »Oder man gewinnt. Wenn Sie mich fragen, Erfolg ist ganz gut, aber er hat wenig mit dem Ziel zu tun. Sonst würde man ja aufhören, wenn man Erfolg hat.« Er schlug das andere Bein über und legte die Arme hinter den Kopf. »Zeigen Sie mir einen Spieler, der aufhören kann.«
    Seit zwei Stunden paddelten wir in zwei Kanadiern flussabwärts. Fox und die Giulianis im vorderen, im hinteren De Vries, Wessing und ich. Saffkin und Frau Dr.   Decker waren in der Lodge geblieben, der Russe war auch zum Frühstück nicht erschienen. Wahrscheinlich schlief er noch, getreu seinem Vorbild, dem bettlägerigen Oblomow.
    Mit der leichten Strömung glitten wir zwischen schwankenden Blättertabletts hindurch, auf denen tiefblaue und

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