Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
Blaupause hätte ich kaum finden können. Passte das alles nicht zu gut zusammen?
Wieso hatte Hugh die blutbefleckte Kleidung nicht aus dem Weg geschafft? Oder das Messer? Zudem blieb die Frage offen, wann genau der Junge starb. Er galt sechseinhalb Tage lang als vermisst. Zuletzt war er am späten Montagnachmittag mit seinen Spielkameraden gesehen worden. Am folgenden Montagmorgen hatte ihn dann um 8:30 Uhr der Kohlenhändler entdeckt, als er einige Säcke im Keller hinter den Mietshäusern ablud. Die Polizei fand kaum Blutspuren, der Pathologe war zum Schluss gelangt, der Todeszeitpunkt müsse mindestens zwei oder drei Tage zurückliegen. Es lag nahe, dass der Junge an einem anderen Ort umgebracht und erst später dorthin gebracht worden war. Wo also hatte Hugh – oder der Mörder – den Jungen drei oder vier Tage lang versteckt? Doch sicher nicht in seinem kleinen Zimmer, dem die Polizei gleich zu Beginn der Ermittlungen einen Besuch abstattete. Wie sollte er das Kind dort vier Tage lang festhalten, ohne dass es einen Laut von sich gab? Indem er es mit Heroin gefügig machte? Unwahrscheinlich.
In den Ermittlungsberichten stolperte ich über mehrere vertraute Namen. Der verantwortliche Kriminalhauptkommissar war George Muncie, den ich aus meiner eigenen Dienstzeit kannte. Ein stämmiger Mann mit rotem Haar, cholerischem Temperament und einer überaus hohen Meinung von sich. Er hatte meine alte Abteilung Glasgow-Ost so autokratisch geleitet, als handelte es sich um sein ganz privates Fürstentum. Der ihm unterstellte Ermittlungsbeamte, Kriminaloberinspektor Willie Silver, musste sein Alkoholproblem offensichtlich in den Griff bekommen haben, um seit 1939 vom einfachen Kriminalmeister in diese Position aufzusteigen. Oder es gelang ihm mittlerweile einfach besser, seine Sucht zu kaschieren. Kaschieren war sowieso eine Spezialität der Leute, die Sam Campbell ironisch als »Glasgows ganzer Stolz« bezeichnete.
»Irgendwas gefunden?«
Als die Rechtsanwältin in ihr Büro zurückkehrte, drehte ich mich zu ihr um. »Ich muss versuchen, einigen Dingen, von denen ich hier gelesen habe, auf den Grund zu gehen. Mit verschiedenen Leuten reden, herausfinden, was die Gerichtsmediziner dachten . Das ist viel wichtiger als das, was sie in ihrem offiziellen Bericht festhalten. Diese zeitliche Kluft zwischen der Entführung des Jungen und seinem Tod gefällt mir nicht. Wo steckte er in der Zwischenzeit? Haben Sie Hugh danach gefragt?«
»Selbstverständlich. Genauso wie die Staatsanwaltschaft und der Richter. Er ließ die Frage unbeantwortet.«
»Na ja, was sollte er dazu schon sagen, wenn er’s nicht getan hat.«
»Die Staatsanwaltschaft verstieg sich zu der Behauptung, er wollte sein bestialisches Tun auf diese Weise lediglich vertuschen. Bestenfalls habe er sich in einem Drogenrausch befunden. So oder so handele es sich bei ihm um ein krankes Tier, für das der Tod dem Gnadenstoß gleichkomme.«
»Was seine Heroinabhängigkeit betrifft: Hat man Hughs Dealer ausfindig gemacht?«
»Ich glaube nicht, dass das bei den Untersuchungen eine Rolle spielte. Ist das wichtig?«
»Keine Ahnung. Lediglich eines von vielen fehlenden Teilen im großen Puzzle. Hugh pflegte nur mit sehr wenigen Menschen Kontakt. Einer davon war der Drogenlieferant. Vielleicht könnte er uns genauer verraten, was Hugh in jener Woche getrieben hat.«
»Was ist noch wichtig?«
»Zeugen, Freunde?«
»Der Einzige, der sich für ihn eingesetzt hat, war sein Priester, Pater Cassidy. Er beteuerte immer wieder, dass er ihn für unschuldig hält. Doch selbst sein Vertrauen zu Hugh geriet mit zunehmender Prozessdauer offensichtlich ins Wanken. Allerdings besucht er ihn nach wie vor regelmäßig im Gefängnis. Vielleicht kann er Ihnen etwas zu weiteren Bekannten von Hugh verraten und kennt auch den Namen des Drogendealers. Ich gebe Ihnen mal seine Adresse.«
Sie reichte mir einen Zettel und musterte mich unverhohlen, während ich die Angaben las.
»Was ist los?«
»Jetzt bin ich dran. Zu welchem Urteil gelangen Sie nach allem, was Sie jetzt gelesen haben?«
»Sie meinen, wie ich als Geschworener geurteilt hätte? Lediglich gestützt auf das Beweismaterial? Ich hätte ihn schuldig gesprochen.«
»Aber?«
»Als ehemaligem Polizisten mit berufsbedingter Skepsis kommt mir das alles zu hieb- und stichfest vor. Hab noch nie einen dermaßen eindeutigen Fall auf dem Tisch gehabt.«
»Können Sie sich Ihr endgültiges Urteil noch eine Weile
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