Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
Schornstein. Das schien nicht unbedingt zur Sorge Anlass zu geben, doch ich ließ Sam trotzdem vorsichtshalber im Wagen warten. Ich klopfte an der Haustür und wartete, klopfte und wartete. Durch das Fenster war aufgrund der dicht zugezogenen Gardinen nichts zu erkennen.
»Die is nich da«, meldete sich eine Stimme hinter mir.
Als ich mich umdrehte, sah ich am Gartentor eine zierliche Frau in Pantoffeln stehen, die über rosafarbenen Lockenwicklern ein Haarnetz trug. Aus ihrem Mund baumelte eine Zigarette.
»Ist sie einkaufen? Oder in der Schule?«
»Glaub nich.« Sie schüttelte den Kopf. »Sind nich der Erste hia mitm großn Wagn.«
Samantha kurbelte das Fenster herunter. »Was ist los?«
Ich ging zu der Nachbarin hinüber, damit Sam die Antworten der Frau mithören konnte. »Sie sagen, es war ein großer Wagen da? Wann?«
»Erst gestern.«
»Hat man die Familie mitgenommen?«
»Ja, zwei Männa, große Kerls. Ham sie un die Kinder mitgeschleppt.«
»Mitgeschleppt? Gegen deren Willen?«, hakte Sam nach.
»Na ja, jedenfalls hat Mrs. Kennedy so ausgesehn. Hat kein Auge von ihrn Kindern gelassn. Ich wa ja drin gewesn, wissen se. Hab deshalb nix gehört. Nur Mrs. Kennedys Blick gesehn. Glücklich war die ganz sicha nich.«
»Haben Sie die Männer früher schon mal gesehen?«, fragte ich.
»Kla, dat warn doch die, wo die Familie vor pa Monatn hierhergebracht ham. Große, harte Burschen, wissen se. Mit Narbn un so. Will se damit nich beleidign«, setzte sie mit einem Blick auf mein Gesicht nach.
»Und den Wagen kannten Sie auch?«
»Solche Wagn sieht man hia nich viel.«
»Also war es kein Auto aus der Gegend?«
»Nee, bestimmt nich.«
Wir fuhren zum Strand, stiegen aus, setzten uns auf dieselbe Bank wie bei meinem letzten Besuch vor zwei Tagen und blickten zum Festland hinüber. Ich holte meine Zigaretten heraus und bot Sam eine an.
»Die haben nicht viel Zeit verloren«, bemerkte sie.
»Während wir von Silvers Schwachköpfen verhört wurden!«
»Meinen Sie, die halten die Frau auf der Insel fest?«, fragte Sam.
»Kommt darauf an.«
»Auf was?«
»Ob sie noch lebt oder tot ist.«
Wir rauchten zu Ende und sahen zu, wie die Funkenspur der weggeschnippten Zigarettenstummel durch die Luft segelte und mit leisem Zischen im Wasser verlosch.
»Wir könnten nach dem Wagen suchen«, schlug sie vor.
»Könnten wir, aber wenn der Wagen noch auf der Insel ist, parkt er wahrscheinlich in einer Garage oder auf einem Privatgrundstück. Die Suche dürfte Tage dauern. Und vielleicht befindet sich das Fahrzeug auch längst wieder auf dem Festland. Die Frachtliste der Fähre wäre eine Möglichkeit. Die von gestern.«
»Na ja, auf jeden Fall besser, als einfach hier herumzusitzen und den Wellen zuzusehen.«
Ich schaute auf die sanfte Dünung und genoss den Blick auf die grünen Hügel von Holy Island. »Da bin ich mir nicht so sicher«, seufzte ich und stand auf. »Aber die Pflicht ruft. Ich muss vorher der kleinen Frau, die ihre Augen und Ohren offenbar überall hat, noch eine Frage stellen. Hab ich vorhin vergessen.«
Also fuhren wir zurück zu Mrs. Reids Haus. Als ich bei der Nachbarin klopfte, öffnete sie so schnell, als hätte sie hinter der Tür gewartet, das Auge an die Netzgardine über der Glasscheibe gedrückt.
»Ihnen ist nicht zufällig das Nummernschild des Wagens aufgefallen?«, fragte ich.
Sie schüttelte den mit Lockenwicklern verzierten Kopf. »Nee.«
»Trotzdem danke.« Ich drehte mich um und machte mich auf den Weg zurück zum Wagen. Sie wartete, bis ich am Tor angekommen war.
»Abba unsa Alec hats gesehn.«
Ich drehte um. Neugierige kleine Jungs schienen immer genau dann aufzutauchen, wenn ich sie brauchte. Sie holte Alec, ein typisches Schmuddelkind in Unterhemd und Pullunder, dem die Nase lief und die Shorts um die mageren Hüften schlackerten. Aber er schleppte tatsächlich ein zerfleddertes kleines Notizbuch mit sich herum.
»Alec sammelt Fahrzeugnummern«, erklärte seine Mutter. »Gibt hia ja keine Züge, deshalb schreibt er sich Nummernschilder vonne Autos auf.«
»Wissen se, im Sommer komm die Leute ja imma rüber anne Feiertage und dann hab ich viel zu tun«, unterstrich Alec die Bedeutung seiner Arbeit.
»Nerv den Mann nich, sach ihm nur die Numma vom großn Wagn gestern.«
Alec blätterte das Notizbuch gewichtig bis zur letzten Seite durch, fuhr mit dem schmutzigen Zeigefinger über sein kindliches Gekritzel und las stolz vor: »Warn Austin 10. SD 319. Is ne Glasgower
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