Ganz oder gar nicht (German Edition)
EM-Spiel von den holländischen Medien mit Anleihen aus dem Zweiten Weltkrieg entsprechend angeheizt. Das führte dazu, dass im Hamburger Volksparkstadion mehr Orange zu sehen war als Schwarz-Rot-Gold. Und leider konnten wir erleben, dass offenbar auch bei den Spielern noch irgendetwas in den Köpfen hing, was nicht mit Fußball zu tun hatte.
Die erste Hälfte war umkämpft. Erst zu Beginn der zweiten Halbzeit brachte ich uns mit einem Elfmetertor in Führung. Doch die Oranjes spielten in der zweiten Halbzeit ihre individuellen Qualitäten aus, glichen ebenfalls durch einen Elfer aus und machten zwei Minuten vor Schluss durch ein Tor von van Basten den Sack zu. Natürlich waren wir enttäuscht. Aber die Niederlage war verdient, und zumindest ich steckte sie schnell weg. Was mir nachhaltig hängen blieb, waren viel mehr die Reaktionen der Holländer nach dem Spiel. Nicht die Fans, nicht die Medien, sondern die Spieler selbst benahmen sich komplett daneben. Nach dem Trikottausch wischte sich Ronald Koeman mit einer unmissverständlichen Geste mit Olaf Thons Trikot lachend den Hintern ab. Er tat das also nicht aus Enttäuschung, sondern aus Schadenfreude. Für so etwas habe ich überhaupt kein Verständnis. Derartige Entgleisungen habe ich auch bis heute kein zweites Mal erlebt. Und Torwart van Breukelen sagte doch tatsächlich während des Spiels zu mir: »Ich hoffe, dass du tierisch stirbst!« Ist das nicht unglaublich? Zur Ehrenrettung von van Breukelen muss ich aber hinzufügen, dass er sich inzwischen für diesen Satz schämt, sich Jahre später bei mir entschuldigte und die üble Stimmung nicht mit Deutschenfeindlichkeit erklärte. In einem Interview erzählte er, dass die Mannschaft von 1988 derart übermotiviert gewesen sei, da die Goldene Fußball-Generation um Johann Cruyff die damaligen Spieler wegen ihrer fehlenden Einstellung heftig kritisiert und sie als Pommes-Generation beschimpft hatte. Das ist eine mögliche Erklärung, aber sicher keine Rechtfertigung für so ein Verhalten. Zumal es sich bei der WM 1990 fortsetzen sollte …
NEUE HEIMAT ITALIEN UND DIE NUMMER 10
Für mich war der Wechsel nach Italien ein Riesenschritt. Wir hatten noch Grenzkontrollen, es gab noch keine Handys, der Euro war noch längst nicht in Sicht, und kein Satellitenfernsehen versorgte uns mit Meldungen aus der Heimat. Die deutschen Zeitungen, die man kaufen konnte, waren zwei Tage alt. Ich kam nach Italien und befand mich in einer anderen Welt – obwohl Mailand auch damals nur vier Autostunden von München entfernt gewesen ist.
Hinzu kamen die fehlenden Sprachkenntnisse. Ich konnte kein Italienisch, und kaum ein Italiener sprach Englisch. Und die, die Englisch sprachen, taten das so bruchstückhaft wie Andy und ich. Wir verständigten uns mit Händen und Füßen. Die Italiener brachten uns die ersten Wörter bei, im Trainingslager dankten wir es ihnen mit Weißbier, das wir in Badewannen kühlten. Wenn ich eines in dieser Anpassungszeit gelernt habe, dann, dass man sich gar nicht in einer gemeinsamen Sprache fließend unterhalten können muss, um sich zu verstehen. Man fühlt, oder man fühlt nicht. Die Sprache sollte auf dem Fußballplatz oder in einer Beziehung nicht das Problem sein. Wenn man sich liebt, liebt man sich. Und wenn man einen Weg sucht, findet man ihn auch. Selbst Trapattoni präsentierte sich bei den Vertragsverhandlungen mit schepperndem Englisch und rudimentärem Deutsch, aber ich spürte: Trapattoni will mich! Er braucht mich! Es gab eine Herzensverbindung.
Die zeigte sich auch bei der Trikotvergabe. Trapattoni fragte mich, welche Nummer ich denn gerne auf dem Rücken tragen würde. Ich sagte: »Die 6 oder die 8.« »Die sind schon vergeben«, meinte er. »Was hältst du von der 10?« »Ich? Ich bin keine 10«, sagte ich und stellte klar: »Ich bin nicht Maradona und auch nicht Platini.« »Du bist nicht Maradona. Du bist nicht Platini. Das stimmt«, konterte Trapattoni, »aber du bist genauso wertvoll wie sie.« Gegen diese Argumentation war ich chancenlos. Trapattoni verhalf mir so zur Nummer 10, einer Nummer, die damals noch eine viel stärkere Bedeutung und Wertigkeit hatte als heute, wo sich jeder irgendeine sinnlose Primzahl auf den Rücken drucken lassen kann. Die 10 war etwas!
Andy und ich haben mit unseren Familien nicht in Mailand gewohnt, sondern in Carimate, einem kleinen 3500-Seelen-Dorf zwischen Como und Mailand. Das bot sich an, da das Trainingsgelände von Inter in der Gegend war,
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