Ganz oder gar nicht (German Edition)
nach unseren Gesprächen. Wir sind die komplette Strategie durchgegangen, und er fragte dabei immer ganz genau, was ich davon halten würde. Er wollte sogar wissen, in welcher Formation ich spielen würde. Denn er wusste, dass ich mir sehr viele Gedanken machte über die Mannschaft. Er wusste, dass ich als Spieler sehr viel beobachtete und fast schon wie ein Trainer arbeitete. Er wusste, dass ich näher an der Mannschaft dran bin als er. Und er wusste auch, dass ich im Hinblick auf die Mannschaftsaufstellung ehrlich war. Mir ging es als Kapitän nie darum, meine Freunde durch Klüngelei in die Mannschaft zu bringen, sondern die aktuell besten Spieler zu empfehlen, die zum Gesamterfolg am meisten beitragen konnten. Mir ist wichtig zu sagen, dass ich dabei nie jemanden verraten oder aus persönlichen Beweggründen schlechtgemacht habe. Ich habe Franz meine fachliche Meinung vermittelt und ihn in brenzligen Situationen darauf hingewiesen, dass er seine Augen aufmachen muss. Auch da habe ich keine Namen genannt, sondern gesagt: »Pass auf, Franz, da braut sich etwas zusammen.«
Aus dieser Verbindung zu Franz, aus diesem Vertrauen, ist auch privat ein vertrautes Verhältnis geworden. Wir haben nicht nur Respekt voreinander, wir mögen uns. Ich habe immer seine neuesten Telefonnummern. Und wenn ich das Bedürfnis hätte, mit ihm zu sprechen, hätte er auch immer Zeit für mich. Das weiß ich. Franz hat ein großes Herz.
BLÜH IM GLANZE DIESES GLÜCKES …
Ende der achtziger Jahre muss Franz Beckenbauer aufgefallen sein, dass die komplette Mannschaft die Nationalhymne nicht mitsingt, sondern teilnahmslos der Kapelle zuhört. Ich auch. Die meisten kannten den Text gar nicht. Und das störte Franz kolossal, gerade auch weil andere Mannschaften aus voller Kehle für ihr Land sangen. Also verteilte er Zettel mit der dritten Strophe des Lieds von Hoffmann von Fallersleben, und wir hatten zu lernen. Er zwang uns nicht dazu, aber er erwartete es von uns und kam uns emotional: »Ihr könnt doch stolz sein, für euer Land zu spielen! Wieso singt ihr dann nicht!«
Also schnappte ich mir den Zettel, lernte den Text auswendig und sang dann auch voller Inbrunst mit: »Blüh im Glanze dieses Glückes …« Ganz oder gar nicht. Das erste Mal die Hymne zu singen, mit der Kamera vor dem Gesicht, das war schon unangenehm. Vermutlich für alle. Aber Franz hat es geschafft, diese Kultur ins Team zu tragen. Und ich denke, dass es auch ein wichtiges Zeichen an die Zuschauer geworden ist. Wir gehören zusammen! Wir sind ein Land! Wir haben unser Lied!
Ich war tatsächlich immer stolz, für Deutschland aufzulaufen, aber Patriot war und bin ich nicht. Denn ich habe immer die Schwachstellen gesehen. Auf gesellschaftlicher und vor allem auf zwischenmenschlicher Ebene. Ich habe immer alles für dieses Land gegeben, habe versucht, es als Spieler und als Trainer so gut es geht zu repräsentieren. Ich bin respektvoll und freundlich zu den Menschen und fälle kein Urteil über jemanden, den ich nicht kenne. Und das erwarte ich auch von anderen.
STRESS MIT HOLLAND
Die Vorbereitung auf die Europameisterschaft verlief – abgesehen von unserem kleinen Ausflug ins Bordell – reibungslos. Wir absolvierten ein optimales Trainingslager in Malente, und auch die Atmosphäre innerhalb des Teams stimmte. Ich hatte mir viel vorgenommen. Erstens wollte man natürlich in der Heimat ein solches Turnier gewinnen, zweitens traten wir als Vizeweltmeister auf. Und drittens trug ich inzwischen die Kapitänsbinde.
Die Vorrunde verlief ordentlich. Wir spielten 1:1 gegen Italien. Andreas »Nobody« Brehme machte sich durch das Ausgleichstor im Lande seines zukünftigen Arbeitgebers bekannt. Danach gab es zweimal ein 2:0 – gegen Dänemark und Spanien. Damals waren die Europameisterschaften noch keine so großen Spektakel wie heute. Sie waren vor allem kürzer, komprimierter. Auf die drei Vorrundenspiele – es gab nur zwei Vierergruppen – folgte sofort das Halbfinale. Es sollte unsere Endstation sein.
Ausgerechnet die Holländer erwarteten uns. Mit ihnen hatten wir in der Vergangenheit bereits unangenehme Erfahrungen gemacht, damit meine ich weniger das Sportliche. Ich erinnere mich, wie ich mal im Stadion in Rotterdam auf einem Plakat mit Hitler verglichen wurde. Bei anderer Gelegenheit wurden wir vor einem Spiel in Holland durch eine Bombendrohung aus dem Schlaf gerissen. In Holland schlug uns in den Achtzigern purer Hass entgegen.
So wurde auch das
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