Ganz oder gar nicht (German Edition)
in den Himmel von Turin. Bevor ich mich dem totalen Jubel hingab, ging ich zu Waddle und tröstete ihn. Es muss wohl eine berührende Szene gewesen sein, denn ich werde noch heute in England auf sie angesprochen. Aufgrund meines Elfmetertraumas von 1984 konnte ich bestens nachvollziehen, wie sich Waddle fühlen musste. Dann ließ auch ich der Euphorie freien Lauf. Die Stimmung in der Kabine war mindestens genauso laut und gut wie nach dem Endspiel.
DER ZERBROCHENE SCHUH UND DER TRIUMPH VON ROM
Wir waren schon glücklich, überhaupt im Endspiel zu sein. Doch wir waren umso glücklicher, als klar war, dass wir gegen Argentinien antreten müssen und nicht gegen die Italiener. Die Argentinier hatten den Gastgeber im Elfmeterschießen ins Tal der Tränen geschickt. Somit hatten wir in Rom kein Auswärtsspiel, sondern ein Stadion, das komplett auf unserer Seite war. Hinzu kam, dass Diego Maradona außerhalb Neapels ziemlich unbeliebt war und wir einen Rudi Völler in unseren Reihen hatten, der beim AS Rom große Sympathien genoss.
Am Abend vor dem Spiel war ich wieder mit Franz Beckenbauer zur Besprechung verabredet. Und er eröffnete mir, dass er vorhatte, Thon wieder aus der Mannschaft zu nehmen und mir im Mittelfeld wieder Littbarski an die Seite zu stellen. Aber wer nimmt es mit Maradona auf? »Spielst du gegen ihn wie vor vier Jahren? Oder doch lieber Buchwald?«, fragte Franz mich rhetorisch, um seine Entscheidung direkt hinterherzuschieben: »Ich glaube, ich habe vor vier Jahren in Mexiko einen großen Fehler gemacht, Lothar. Ich habe unsere Offensive geschwächt, weil ich dich geopfert habe, um Maradona auszuschalten. Den Fehler mache ich nicht noch einmal. Guido spielt gegen Diego, okay?« Natürlich war das okay.
Guido Buchwald hat die Aufgabe wunderbar gelöst. Nicht von ungefähr nannten wir ihn bereits vor dem Turnier Diego Buchwald, weil er uns mit plötzlichen Tricks überraschte, die wir von ihm gar nicht gewohnt waren. Von Maradona war also nicht viel zu sehen. Bekanntlich wurde das Spiel durch einen Elfmeter entschieden, der eigentlich keiner war. Ich passte den Ball zu Rudi Völler, der im richtigen Moment abhob und den Pfiff provozierte. Wildes Durcheinander. Ich sagte zu Andy Brehme: »Neue Schuhe. Schieß du!«
Das muss ich erklären. Es klingt merkwürdig, aber diese spontane Entscheidung geht zurück auf das Jahr 1988. Genauer: auf das Abschiedsspiel von Michel Platini in Nancy. Ich war mit größerem Gepäck angereist, da es für mich danach zur EM-Vorbereitung ging. Daher hatte ich sowohl meinen Adidas-Schuh für die Nationalelf dabei als auch meinen Sponsoren-Schuh von Puma, mit dem ich im Verein, aber auch bei solchen Benefizspielen auflief. Ich saß mit Maradona beim Mittagessen, als ihm aus heiterem Himmel einfiel, dass er seine Fußballschuhe vergessen hatte. Ich fragte ihn: »Was hast du für eine Größe, Diego? Vierzigeinhalb? Passt!« Ich gab ihm meine Nationalelf-Schuhe von Adidas. Kurze Zeit später erlebten die einen magischen Moment: Maradona veränderte vor dem Spiel die Schnürung des Schuhs. Er nahm die Senkel komplett raus, arrangierte sie nach einem ganz bestimmten Muster – über kreuz, gerade hoch, über kreuz, gerade hoch – und band den Schuh lockerer.
Diese Schnürung à la Maradona habe ich danach nie verändert. Und da ich diesen Schuh nur rund zehn Spiele pro Jahr getragen habe, hielt er natürlich sehr lange. Das letzte Spiel mit diesem Schuh sollte das WM-Finale 1990 in Italien sein. Nach dreißig Minuten fiel er auseinander, die Sohle brach, und ich musste auf komplett neue Schuhe wechseln. Was wäre das für ein Moment gewesen, den entscheidenden Elfmeter gegen Argentinien mit Schuhen zu schießen, die der berühmteste Argentinier selbst gebunden hatte. Immerhin: Zwei Jahre lang habe ich mit der Maradona-Schnürung gespielt und uns damit durch alle WM-Spiele ins Finale geschossen. Aber als es in die entscheidende Phase im Spiel gegen Argentinien ging, verließ mich sein Geist. Als ob er einen Sieg gegen Argentinien verhindern wollte.
Nun also der neue Schuh. Ich fühlte mich einfach nicht sicher in ihm. Und wenn ich mich nicht sicher fühle, riskiere ich nichts. Ich habe mich also nicht der Verantwortung entzogen, wie schon während des Spiels Karl-Heinz Rummenigge als Co-Kommentator ins ARD-Mikrofon ätzte, sondern habe an den Erfolg der Mannschaft gedacht. Ein vernünftig denkender Mensch weiß doch: Wenn du einen nagelneuen Schuh anhast, der noch nicht
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