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Ganz oder gar nicht (German Edition)

Ganz oder gar nicht (German Edition)

Titel: Ganz oder gar nicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Häusler , Lothar Matthäus
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einmal eingelaufen ist, dann ist das physisch und psychisch eine hochsensible Angelegenheit. So ein Schuh muss wie eine zweite Haut sitzen. Und so saß er nicht. Er passte einfach noch nicht. Und deshalb kam Andy die entscheidende Rolle zu.
    Sergio Goycochea im Tor der Argentinier galt als Elfmetertöter. Ich weiß noch, wie Andy mitten in dem Getümmel am Elfmeterpunkt stand und völlig in sich ruhte. Gegen seinen platzierten Schuss hatte Goycochea keine Chance. Die letzten Minuten des Spiels waren ein frustriertes Gehacke der Argentinier, die noch zwei rote Karten kassierten. Drei Minuten Nachspielzeit, Schlusspfiff. Glücksgefühle pur. Gänsehaut. Der größte Moment, den ein Fußballer erleben kann. Ich küsste den Pokal und reckte ihn in die Höhe. Ein Augenblick für die Ewigkeit.
    In der Kabine ging es hoch her. Wir sangen, tanzten, tranken. Und dann stand der unvermeidliche Bundeskanzler im Raum, umgeben von zwei Dutzend nackten und halbnackten Männern. Der Herr Kohl. Was soll ich dazu sagen. Wenn sich ein Politiker vier Jahre nicht bei einem Freundschaftsspiel blicken lässt, warum muss ich ihn dann beim Endspiel sehen? Das wäre so, als würde ich mich zehn Jahre beim FC Bayern nicht sehen lassen und plötzlich nach Eintrittskarten fragen, weil man das Champions-League-Finale erreicht hat. Das würde ich niemals machen, da käme ich mir blöd vor. Ich würde mich schämen. Ganz oder gar nicht. Aber gut, die Politik unterstützt den Fußball, und so hat sie wahrscheinlich auch das Recht, sich in unserem Lichte zu sonnen und Reklame in eigener Sache zu machen. Uns war’s egal.
    Ich erinnere mich weniger an das Festessen im Hotel als feierlichen Schlusspunkt einer erfolgreichen WM. Nein, es war ein ganz einsamer Moment mit meinem Zimmerkollegen Andreas Brehme, der sich mir nachhaltig eingebrannt hat. Wir entfernten uns am frühen Morgen von der Partygesellschaft, setzten uns mit einer Flasche Bier auf die Wiese im Park des Hotels, blickten in die aufgehende Sonne Roms und ließen die WM noch einmal Revue passieren – mein Traumtor gegen Jugoslawien, den Ehrensieg gegen Holland, das Elfmeterschießen gegen England, den erlösenden Elfmeter. Diese WM ist kein Selbstläufer gewesen. Wir hatten es geschafft, fünf Hochkaräter auszuschalten. »Hai fatto bene, Andy!«, sagte ich. »Hai fatto bene, Lothar!«, sagte er. Hast du gut gemacht.
    Warum, das wurde ich in den letzten Jahren immer wieder gefragt, warum entwickelte sich die Fußballbranche mehr oder weniger vorbei an ihren Stars von 1990? Warum hat sich mit Ausnahme von Rudi Völler in Deutschland kaum jemand dauerhaft einen angemessenen Arbeitsplatz erkämpfen können? Möglicherweise dachten viele Vereine, dass die Weltmeister im eigenen Lande ihnen zu viel Aufmerksamkeit stehlen würden. Im Ausland hat es ja für einige durchaus funktioniert. Ich bin im Ausland Meister geworden, Littbarski ist im Ausland Meister geworden, Buchwald ist im Ausland Meister geworden. Und an denen, die tatsächlich mal die Chance hatten, in der Bundesliga zu wirken – wie Klinsmann oder Brehme –, hat man nicht sehr lange festgehalten. Die andere Theorie ist, dass schon 1996 eine nächste erfolgreiche Generation nachgekommen ist, die sich nach Karriereende einfach besser vernetzt und verkauft hat als die 1990er-Weltmeister. Oliver Bierhoff ist heute als Teammanager der Nationalmannschaft äußerst erfolgreich, Matthias Sammer kümmerte sich vorbildlich um den Nachwuchs beim DFB, Andreas Köpke hält die Torhüter der Nationalelf fit, und Markus Babbel trainiert reihenweise Bundesliga-Mannschaften.

WEST + OST = UNSCHLAGBAR
    Das legendäre Statement, mit dem Franz Beckenbauer nach WM-Gewinn und Deutscher Einheit für Aufsehen sorgte, klang auf den ersten Blick abenteuerlich, arrogant und aggressiv. »Über Jahre hinaus werden die Deutschen nicht zu besiegen sein. Es tut mir leid für den Rest der Welt.« Das sagte er auf einer Pressekonferenz, um die Perspektiven des deutschen Fußballs mit der chirurgischen Präzision eines Metzgers zu umreißen. Was Franz meinte, konnte ich nachvollziehen. Wir sind gerade Weltmeister geworden und bekamen danach noch gute Spieler aus dem Osten dazu. Außerdem sah Franz den Nachwuchs im Westen mit jungen Wilden wie einem Stefan Effenberg. Wer könnte uns also noch gefährlich werden? Franz bürdete seinem Nachfolger Berti Vogts mit dem Spruch eine große Last auf, aber im Grunde hatte er recht. Dass es Vogts 1994 nicht schaffte, dieser

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