Ganz oder gar nicht (German Edition)
bezahlt viel Geld für Entschlackungskuren, trinkt dann Unmengen Tee und kriegt bloß ein Körnerbrötchen pro Tag zu essen. Drei Kilo verlieren die dann, haben sie aber nach ihrer Rückkehr in zwei Tagen wieder drauf. Glückwunsch. Das Gleichgewicht von Lebensfreude und Disziplin hat bei mir immer funktioniert. Aber wieder zurück zur WM.
FRANZ MAL WILD, MAL MILD
Die wohl heftigste Kabinenpredigt erlebte ich nach dem 1:0 gegen die Tschechoslowakei im Viertelfinale. Wir waren weiter! Doch Beckenbauers Reaktion fiel so aus, als hätten wir haushoch verloren. Er schmiss alle Offiziellen aus der Kabine, er wollte nur die Mannschaft haben. Er knallte die Tür zu und trat dann gegen eine Kühlbox, und die Eiswürfel flogen uns nur so um die Ohren. Jetzt flohen auch die Masseure. Franz konnte sich gar nicht mehr beherrschen. Er lief von rechts nach links, von links nach rechts. Er wütete, er schrie. Er trat nach allem, was herumstand. Man hätte eine Zwangsjacke gebraucht, die vom Kopf bis zu den Füßen reichte. Er ist auf jeden einzelnen Spieler losgegangen, hat uns beleidigt. Wir seien bekloppt, wir seien nicht mehr normal. Es war schockierend mitzuerleben, wie man nach einem erfolgreichen Spiel so ausflippen kann. Vielleicht haben wir auch ein wenig geschmunzelt. Denn da hatte sich einer total verloren. Man hätte ihn mit einem Lasso einfangen müssen. Der simple Grund für seinen Ausraster: Ein Tscheche war vom Platz geflogen. Eigentlich ein Riesenvorteil für uns, wenn man strategisch darauf eingegangen wäre. Wir nahmen die neue Situation aber zu locker, ließen trotz Überzahl in den letzten zwanzig Minuten zahlreiche Chancen zu. Beckenbauers Unmut war schon während des Spiels mitzuerleben. Er flippte total aus. Ich weiß noch, wie er Andy Brehme zurief: »Spiel bloß nicht mehr den Jürgen an! Der verliert jeden Ball! Der spielt gegen uns!« Herrlich. Das Nachspiel mit Franz war eigentlich interessanter als das Spiel, das wir durch ein Elfmetertor von mir gewinnen konnten. Gleichzeitig war es das letzte Spiel in meinem Mailänder Wohnzimmer. Auch Franz beruhigte sich wieder. Er hatte das gedurft. Er war der Kaiser.
Der Kaiser hatte seinen Adjutanten, das war Holger Osieck. Eigentlich war er der Trainer, Holger gab die Übungen vor. Woher sollte Franz es auch wissen, er hatte ja nie eine Trainerausbildung – brauchte er auch nicht. Obwohl man heute zwingend einen Trainerschein benötigt, um ein Team zu trainieren, könnte Franz wahrscheinlich noch mit achtzig ohne diese Urkunde irgendwo auf dem Platz stehen. Für ihn würde man alle Augen zudrücken. Was Jogi Löw 2006 für Jürgen Klinsmann war, war Holger 1990 für Franz. Osieck hatte viel Erfahrung und ein gutes Standing, war Trainerausbilder beim DFB, arbeitete für UEFA und FIFA. Er war aber auch der Kumpel der Mannschaft und funktionierte als Bindeglied zum Kaiser für diejenigen, die nicht so einen engen Draht nach ganz oben hatten.
Im Halbfinale ging es in Turin gegen die Engländer, ebenfalls alte Rivalen. Franz wollte etwas ändern. Er wollte angeschlagenen Spielern eine Pause und frischeren eine Chance geben. Beim Training, mitten im Spiel »Fünf gegen Zwei«, kam Franz zu mir und sagte: »Lothar, komm doch mal gerade her. Was meinst du? Ich muss dem Litti sagen, dass er morgen nicht spielen wird. Ich plane mit Olaf Thon. Kannst du mitkommen, wenn ich’s ihm erkläre?« »Nee, nee«, lehnte ich ab, »das ist deine Aufgabe. Ich spiele lieber hier weiter.« Ich sah aus der Ferne, wie Franz Litti mit der Entscheidung konfrontierte. Der trug es mit Fassung, und Olaf Thon machte gegen England ein überragendes Spiel.
Ich selbst stand unter ziemlichem Druck. Mein Gegenspieler war der bullige Paul Gascoigne. Wie gesagt, ich war mit einer gelben Karte vorbelastet. Hätte ich in diesem Spiel die zweite Gelbe erhalten – und das hätte gerade gegen einen wie Paul schnell passieren können –, wäre ich fürs Endspiel gesperrt gewesen. Eine Horrorvorstellung. Ich hatte Glück. Es war ein hochklassiges Spiel mit großem Kampf. Nach 120 Minuten stand es 1:1, und es ging ins Elfmeterschießen, was gegen die Engländer immer Spaß macht. Denn wir wissen: Die können’s nicht. Das haben sie bis heute nicht gelernt – wie man bei der EM 2012 mal wieder erleben konnte.
Für Deutschland trafen zuerst Andy Brehme, danach ich und zum Schluss Karl-Heinz Riedle und Olaf Thon. Stuart Pearce schoss Bodo Illgner gegen die Beine, und Chris Waddle jagte den Ball
Weitere Kostenlose Bücher