Ganz oder gar nicht (German Edition)
habe ich gelernt. Und mir war immer klar, dass meine wirklich größten persönlichen Erfolge nicht die Titel gewesen sind, sondern die Tatsache, dass ich nach meinen schweren Verletzungen zurückgekommen bin und danach noch über Jahre Höchstleistungen bringen konnte. Ja, meine psychischen Siege waren größer als jeder physische Triumph bei einer WM.
EIN BISSCHEN JUPP, EIN BISSCHEN FRANZ
Wird man über viele Jahre von den Giganten des europäischen Fußballsports trainiert, bleibt es nicht aus, dass Prägungen zurückbleiben, die wiederum den eigenen Trainerjob beeinflussen, an dessen Anfang ich nun stand.
Von Jupp Heynckes bringe ich seitdem Übungen ein, um den Kombinationsfußball zu trainieren. Die ruhigen und klaren Gespräche mit den Spielern sind von Ottmar Hitzfeld inspiriert. Die akribisch-taktischen Varianten gehen auf Giovanni Trapattoni zurück. Von Otto Rehhagel lernte ich, für eine harmonische Atmosphäre zu sorgen. Auch Udo Lattek stand für Spielerführung, nämlich dafür, mit den Spielern auch mal ein Bierchen zu trinken. Und bei Franz wurde mir klar, wie wichtig es ist, die eigene Persönlichkeit in die Waagschale zu werfen.
Persönlichkeit äußert sich für mich nicht nur in Charisma, das bei Franz zu der Bezeichnung als Lichtgestalt führte. Persönlichkeit baut sich auch durch Prinzipien auf, die jemand vertritt. Ich behaupte nicht, dass Franz, Ottmar oder ich Heilige sind, wir waren es nie. Wir alle haben auch mal fünf gerade sein lassen. Eine Mannschaft funktioniert allerdings nur perfekt, wenn sie einem Wertegefüge folgt und jeder Spieler in der Lage ist, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung nicht für seinen Vertrag und sich, sondern für die Mission des gesamten Teams. Dabei erwarte ich, dass dieses Verantwortungsgefühl auf und neben dem Platz irgendwann von dem Spieler selbst kommt und er nicht ständig vom Trainer daran erinnert werden muss.
Genauso wichtig ist mir die Ehrlichkeit. Ich mag klare Ansagen und kommuniziere daher sehr offen mit meinen Spielern. Diese Offenheit erwarte ich im Gegenzug genauso. Hinterhältigkeit führt bei mir sofort auf die Tribüne.
Offenheit heißt auch, dass ich nicht einfach wie Jupp Heynckes 1984 kommentarlos an eine Tafel schreiben kann, dass jemand rechter Verteidiger zu spielen hat, obwohl er auf dieser Position noch nie eingesetzt wurde. Klar kann es einmal zu solchen Eventualitäten kommen. Gerade wenn ich merke, dass wir es mit meiner Grundphilosophie des offensiven Spiels beim nächsten Gegner schwer haben werden, muss ich sie variabel gestalten können. Dann muss jeder einzelne Spieler aber auf die Systemveränderungen vorbereitet sein.
Hätte ich auf jeder Position den idealen Spieler, würde ich ein 4–3–3 oder ein 4–1–4–1 spielen – eigentlich sehr ähnliche Systeme mit kleinen Verschiebungen. Was heißt das? Ich spiele hinten mit einer Viererkette mit schnellen Außenverteidigern, die sich auch immer wieder in die Offensive mit einschalten. Ich brauche robuste, bewegliche, zweikampfstarke zentrale Verteidiger. Davor spiele ich mit einer organisierenden Nummer 6, die eine Verbindung zur Defensive hält und Sicherheit gibt, aber auch am Spielaufbau teilhaben muss. Zwei der vier Mittelfeldspieler sollten zwischen den beiden Strafräumen mit viel Laufarbeit agieren und in der Lage sein, das Tempo zu erhöhen oder herauszunehmen. Sie sollten mit Tordrang und einer gewissen Spielintelligenz ausgestattet sein. Die vorderen drei Spieler, rechts, links und in der Mitte, müssen schnell und dribbelstark sein und vor allen Dingen versuchen, immer wieder zum Abschluss zu kommen. Der Inbegriff des modernen Torhüters ist für mich Manuel Neuer. Früher musste der Torhüter Bälle fangen können, heute muss er technisch stark sein und taktisch mitspielen, dirigieren und das Spiel schnell machen können. Dafür steht Neuer.
Ich weiß, dass manche Kritiker daran zweifeln, dass ich aufgrund meines Rufs in der Lage bin, bei den Spielern Respekt zu erzeugen, um meine Philosophien und Strategien wirksam umzusetzen. Ich kann nur berichten, diesem Problem auf meinen Trainerstationen nie begegnet zu sein. Ich habe mir den nötigen Respekt weder durch einen großspurigen Verweis auf meine Erfolge noch durch ein künstliches Klima der Angst zu verschaffen versucht. Im Gegenteil, ich muss dem Spieler vermitteln, dass ich jemand bin, der ihm zuhört, der ihm hilft, sich um ihn kümmert und ihn fördert. Eigenverantwortung ja, aber
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