G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke
Morgen zogen Joan und Kite schon früh los und fuhren zunächst zum Gebäude der Abwässerbehörde, auf der Eleventh Avenue, wo Joan Fatima Sigorski ein paar Formulare unterschrieb und ihren Spind ausräumte. Kite erregte mit ihrem leeren rechten Ärmel die Aufmerksamkeit der jüngeren Kanaljobber, die natürlich annahmen, sie sei eine Veteranin der Kanalisation - ein Mißverständnis, zu dessen Aufklärung sie nichts unternahm. Aus dem Schatzkästlein von Kloakenanekdoten schöpfend, die Joan ihr mitgeteilt hatte, erzählte Kite den leichtgläubigen Barkassenfahrern, sie habe seinerzeit »ganz eng mit Teddy May zusammengearbeitet, damals, wie ich noch ein halbes Küken war und er ein alter Mann, der sich weigerte, in Rente zu gehen«. Als sie das hörten, wollten alle ein Autogramm von ihr haben; sie berechnete drei Mäuse pro Unterschrift und hatte so, als Joan mit ihren Angelegenheiten fertig war, bereits zweiundvierzig Dollar zusammen.
Sie gingen zur 34th Street hinunter und bogen nach Osten ab. An einem Straßenbüdchen gab Kite einen Teil ihrer Einnahmen für fritierte Kichererbsenbällchen und Kaffee aus, und während sie bezahlte, verrenkte sich Joan den Hals, um zum Phoenix hin-aufzustarren, dessen Dachmast, heute morgen im Smog und einer niedrigen Wolkendecke verschwand. Die Elektro-Anzeige auf der Westfassade des Gebäudes war dieselbe, über die sich Eddie Wilder gestern gewundert hatte: das gigantische Abreißkalenderblatt mit der geheimnisvollen Zahl 997.
»Hast du eine Ahnung, was das bedeuten soll?« fragte Joan, während Kite in einen Kichererbsenball biß.
»Ist so ne Art Zähler, nicht?« meinte Kite mit vollem Mund. »Die Zahl nimmt in Abständen zu.«
»Aber weißt du, was da gezählt wird oder wer da Buch führt?
Ich weiß noch, als der Phoenix eröffnet wurde, war der Stand so um die achthundert und ein paar Zerquetschte, und irgendein Kolumnist äußerte sich darüber in der Times, aber er bot keinerlei Erklärung an.«
»Ja, aber weißt du's nicht, Joan? Du warst doch Werbecheftn bei Gant... oder hast du da aufgehört, bevor der Phoenix fertiggestellt wurde?«
»Ein paar Jahre danach. Aber ob du's glaubst oder nicht, die Plakatwände gehören gar nicht Gant Industries. Natürlich war das schon die ursprüngliche Idee gewesen, daß sie vermietet werden und dadurch regelmäßige Einnahmen bringen würden, aber Harry brauchte dringend Bares, um den Phoenix zu vollenden und das Fundament für den Babel zu legen, also hat er sie kurzerhand an eine chinesische Werbeagentur verkauft. Ein kurzer heftiger Geldregen, aber auf lange Sicht hat er Milliarden an potentiellen Mieteinnahmen geopfert.«
»Und niemand hat ihn daran gehindert?«
»Ein paar von uns haben Einwände erhoben, aber Harry hatte das letzte Wort. Darauf läuft's immer hinaus: Es ist ein Privatunternehmen, sein Eigentum, ohne irgendwelche Aktionäre, denen er Rechenschaft schuldig wäre. Harrys alter Partner, Christian Gomez, redete immer wieder davon, man sollte an die Börse gehen, zum Teil erhoffte er sich etwas mehr Transparenz und Kontrollierbarkeit für das Unternehmen, aber Harry wollte nur Berater um sich haben, keine stimmberechtigten Partner.«
»Aber seine Gläubiger...«
Joan schüttelte den Kopf. »Die Banken lieben Harry. Bedingungslos. Was ich dir gestern abend gesagt hab - mit seinem Optimismus, den Erfolgen, die er mit dem Automatischen Diener, dem Transrapid und ein paar anderen Dingen vorweisen kann, und Clayton Bryce' buchhalterischen Kunststücken kann Harry in den Augen der Finanzwelt buchstäblich nichts falsch machen. Seit fünfzehn Jahren ist kein Buchprüfer mehr bei ihm aufgekreuzt; die Leute leihen ihm Geld, weil jeder weiß, daß Gant Industries eine bombensichere Sache ist. Außer Amberson Teaneck natürlich.«
»Hmm ... und was ist aus Christian Gomez geworden?«
»Er ist 2008 gestorben. Ein ungeklärter Autounfall. So hab ich doch überhaupt meinen Job als Regulatorin gekriegt, hab ich dir die Geschichte noch nie erzählt?«
Am Sicherheitsschalter in der Lobby des Phoenix nannte Joan ihren Namen, und sie und Kite bekamen je einen Besucherausweis ausgestellt. Der Aufstieg zur Abteilung für Öffentliche Meinung nahm mehrere Minuten in Anspruch. Der mit jedem zurückgelegten Meter sinkende Luftdruck setzte der Höhe der einzelnen Fahrstuhlschächte eine praktische Grenze; wurde sie überschritten, entstanden im Inneren bald starke Luftzüge, die den Schacht wie eine riesige Orgelpfeife
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