Gassen der Nacht
ihm angezogen und gleichzeitig auch abgestoßen. Sie konnte ihn nie richtig einschätzen. Er war nur ein Trabant, ein winziges Teil im Rad der Zeit, und doch gab es wohl kaum ein Gestirn, das derartig stark mythologisiert worden war wie eben dieser Mond. Es mochte auch daran liegen, daß er in Sichtweite der menschlichen Rasse lag. Sollte es noch andere Rassen in den unendlichen Femen des Alls geben, war es durchaus möglich, daß sie ähnlich über bestimmte Gestirne dachten. Der Mond war ein Freund der Dunkelheit, sein Licht ging auf, wenn die Sonne sich verabschiedete. Möglicherweise empfanden deshalb zahlreiche Menschen ihn als so kalt und bedrückend, ängstigten sich vor ihm und wurden von ihm beeinflußt, wenn er so rund, gelb und voll vom nachtdunklen Firmament herabschien.
Darüber dachte die Frau nach, als sie neben dem Fenster stand und ihn anschaute.
Gleichzeitig spürte sie auch die Furcht.
Es war ein anderes Gefühl als das übliche, das sie bei Vollmondnächten überfiel. Möglicherweise hing es mit dem Besuch des Polizisten zusammen, der ihr geraten hatte, auf keinen Fall nach draußen zu gehen und sicherheitshalber im Haus zu bleiben. Dort draußen, inmitten der engen Gassen, sollte das Unheil lauern.
Der Inspektor hatte sich leider nicht sehr konkret ausgedrückt, was ihr ebenfalls nicht gefallen hatte. Wie schlimm es war, hatte sie nur an seinem besorgten Gesicht ablesen können.
Paula fürchtete sich vor der kommenden Nacht. Dann würde es noch ruhiger werden als jetzt, da schliefen auch die anderen Geräusche ein, die Stille nahm Besitz von dieser Hafengegend, und jeder Atemzug hörte sich doppelt so laut an wie sonst.
Irgendwo im Haus schlug eine Wohnungstür heftig zu. Das Geräusch erschreckte sie und riß sie aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um, blickte auf die Uhr an der Wand, ohne jedoch wahrzunehmen, wie spät es genau war.
Die Stille kehrte zurück.
Paula atmete tief aus. Sie brauchte jetzt einen Schluck zu trinken. Es gehörte schon zu einem Ritual, denn oft genug hatte sie sich in den hellen Vollmondnächten betrunken. Der Griff zur Flasche war wirklich kein Halt gewesen, sie hatte ihn trotzdem als solchen empfunden und war erst in einem Rausch eingeschlafen.
Auch jetzt trank sie.
Der Gin lief als wasserhelle Flüssigkeit in ihre Kehle. Sie ekelte sich manchmal vor dem Zeug, aber jetzt war es da, um ihr zu helfen. Sie mußte einfach diesen verdammten Punkt überwinden. Paula stellte die Flasche ab. Sie schüttelte sich, drehte sich um, schaute wieder zum Fenster - und glaubte, einen Horror-Film zu erleben. Hinter der Scheibe hockte ein Monster!
Paula konnte nicht sprechen, sich nicht rühren, nicht einmal die Augen bewegen. Der Anblick dieser Gestalt hatte sie paralysiert. Sie war nicht einmal fähig zu denken, sie spürte nur den widerlichen Geschmack des Gins auf der Zunge.
Groß und breit war der unheimliche Kopf hinter der Scheibe. Ohren standen ab wie kleine Flügel. Sie sah ein halb offenstehendes Maul, sah krumme, aber scharfe Zähne, eine klumpige Nase und zwei sehr kalte Augen, die leuchteten, als würden sich in ihnen die Flammen von Schneidbrennern widerspiegeln.
Halb Tier, halb Mensch - eine Bestie, bei der die Metamorphose noch nicht abgeschlossen war.
Er war furchtbar.
Plötzlich konnte sie wieder klar denken. Sie begriff, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Sie hätte nicht auf den Polizisten hören sollen. Nicht in den Gassen lauerte die Angst, sondern auf den Dächern und nahe bei den Wohnungen. Keiner war mehr sicher.
Warum schreie ich nicht? Warum brülle ich mir nicht die Seele aus dem Leib und renne weg?
Paula konnte es nicht sagen. Sie war nicht mehr in der Lage, eine Entscheidung zu treffen. Wie festgewachsen stand sie in ihrer Wohnung und starrte auf die Fratze.
Den Körper dahinter konnte sie nur mehr ahnen, weil der Kopf eben zu mächtig war und beinahe das ganze Fenster einnahm. Noch hatte er sich nicht bewegt, doch Paula gab sich nicht der trügerischen Hoffnung hin, daß dies auch so bleiben würde. Dieser Unhold würde das Fenster zerschmettern, er würde über sie herfallen und sie zerreißen. In diesem Augenblick erst wurde ihr die Bedeutung der gedachten Worte richtig klar: Über sie herfallen und zerfetzen, einfach zerreißen, brutal töten und vernichten.
Es waren schlimme Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, die aber nicht aus der Luft geholt waren, denn sie hatte von dieser fürchterlichen Tat gehört, die vor kurzem
Weitere Kostenlose Bücher