Gauck: Eine Biographie (German Edition)
David Gill, damals zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit der Behörde, erinnerte sich, dass es Anfang der neunziger Jahre einen breiten Konsens der Unterstützung der Behörde gegeben habe, sowohl durch die Politik als auch in den Medien. »Ich hatte es relativ leicht. Der Rückhalt war lange Zeit groß. Erst mit Stolpe begann es, schwieriger zu werden.«
Bestärkt durch die Vielzahl der Solidaritätsadressen gelang es dem SPD -Politiker, von seiner eigenen Verstrickung abzulenken, indem er die Angriffe auf ihn in einen Ost-West-Konflikt umdeutete: »Das ist Plattmachen Ost. Seit dem Sommer 1991 soll Stolpe gezielt gestoppt werden«, behauptete er. Stolpe sprach damit vielen, deren Hoffnungen auf Teilhabe und materiellen Erfolg sich in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung nicht erfüllt hatten, aus dem Herzen. Prominente wie der Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer machten sich Stolpes Argumentation zu eigen. Der sprach von einer »Art Bürgerkrieg mancher Westdeutscher gegen die Ostdeutschen«. Seine Parteinahme gipfelte in der Aussage, Stolpe sei »der verlängerte Arm des Widerstandes gewesen«.
Zugleich richtete sich der Unmut über den Umgang mit Stolpe gegen Joachim Gauck, dem man vorwarf, er lasse sich von persönlichen Interessen leiten. Die PDS brandmarkte den Bundesbeauftragten als modernen Großinquisitor, der nach Gutdünken Karrieren beenden und Köpfe rollen lassen könne. Der Spiegel orakelte, Gauck gefalle sich einfach in seiner Rolle als eine der »umstrittensten Persönlichkeiten der deutschen Innenpolitik«. Tatsächlich agierte Gauck im Fall Stolpe emotionaler, als er es sonst tat. Zum einen fühlte er sich durch die geradezu hysterisch geführte öffentliche Debatte persönlich angegriffen. Zum anderen 296 war er betroffen, dass er sich in dem Kirchenmann Stolpe getäuscht hatte. Geigers Sekretärin Silvia Tzschentke konnte sich gut erinnern. »Es war für ihn absolut klar, dass Stolpe ein IM war, das hat ihn berührt. Ansonsten war er nicht so verbissen, wenn es um IM s ging, sondern hat das von allen Seiten beleuchtet.« Ähnlich erinnerte sich auch Gaucks Referatsleiter Klaus Richter: »In diesem Fall hat Gauck sich persönlich eingebracht und unter anderem an entscheidenden Sitzungen der Textbearbeitung selbst teilgenommen.« Gaucks persönliches Engagement ging in diesem Fall so weit, dass Hansjörg Geiger seinen Behördenchef mahnte, sich in der Angelegenheit nicht zu stark zu exponieren, weil er Gefahr lief, über den gesetzlichen Auftrag der BStU hinaus zu agieren.
Für Gauck war klar: Ein Pakt mit dem MfS war unter allen Umständen ausgeschlossen, wenn man integer bleiben wollte. Wer sich heimlich mit der Stasi getroffen und ihr Informationen geliefert hatte, war damit selbst Teil des Unrechtssystems der DDR geworden. In seinen Augen disqualifizierte ein derartiges Verhalten den Betreffenden für die Übernahme eines öffentlichen Amts. Sei es als Ministerpräsident, sei es als Rektor einer Universität. Die Gegenposition Stolpes und seiner Anhänger war: Ja, natürlich, man durfte Kontakte zum MfS gehabt haben. Eventuell musste man das sogar, um seine Ziele gegenüber dem Staat durchsetzen zu können. Wer beispielsweise als Anwalt in einem politisch motivierten Verfahren etwas für seinen Mandanten erreichen wollte, konnte nach ihrer Auffassung gar nicht anders, als darüber mit der Stasi zu verhandeln. Ein solches Verhalten war keineswegs moralisch verwerflich gewesen, argumentierten sie. Und erst recht war es kein Grund, nach der Wiedervereinigung kein öffentliches Amt bekleiden zu können. 297
Erstmals zeigte sich am Fall Stolpe auch, dass die Rechtsprechung nicht in der Lage war, diesen gesellschaftspolitischen Konflikt zu lösen und für Rechtsfrieden zu sorgen. Während Wolfgang Schnur wegen seiner Stasibelastung noch zum Rücktritt gedrängt worden war und Lothar de Maizière sich freiwillig aus der Politik zurückgezogen hatte, hielt Stolpe an seinen Ämtern fest und versuchte mit Hilfe der Gerichte, die Stasivorwürfe aus der Welt zu schaffen. Im Herbst 1992 erhob Brandenburgs Ministerpräsident Klage vor dem Berliner Verwaltungsgericht, mit dem Ziel, Joachim Gauck verbieten zu lassen, ihn als IM zu bezeichnen. Am 3. Juni 1993 gaben die Richter Stolpe in diesem wichtigen Punkt recht. Sie untersagten Gauck, weiterhin zu behaupten, der SPD -Politiker sei nach Maßstäben des MfS ein wichtiger Inoffizieller Mitarbeiter gewesen. Dafür lägen trotz des Gutachtens
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