Gebrauchsanweisung für Südengland
Mick, die die Rolle der Läutmeisterin übernommen hat, stammt aus einem Pfarrhaushalt und wuchs mit dem Läuten auf. Während ihre beiden Kinder in der Ecke des Glockenturms spielen, versucht sie, mit viel Nachsicht und Geduld, ihre Gruppe zu Höchstleistungen zu motivieren.
Peter, 13 Jahre alt und seit einem Jahr dabei, übt den richtigen Zug erst einmal an der kleinen Glocke, die einen Dämpfer aufgesetzt bekommen hat, damit die Nachbarschaft nicht zu sehr unter der Probe leidet. Mick weist die vier Teenager, die alle vor maximal zwei Jahren angefangen haben, auch in die Geheimnisse des Glockenläutens ein. Zunächst müssen sie lernen, richtig am Glockenstrang zu ziehen. Dann kommt hinzu, im Rhythmus und im Einklang mit den anderen zu spielen. Nicht umsonst spricht man von einer band, deren Instrumente die Glocken sind. Der Begriff Teamarbeit bekommt hier auf einmal eine sehr konkrete Dimension.
John Betjeman schrieb in seiner Abhandlung über die englischen Gemeindekirchen auch über den Glockenturm: »Ein Glockenstuhl, in dem begeisterte Glöckner zugange sind, wirkt wie ein belebter, gutbesuchter Treffpunkt.« Das trifft auch auf den Turm in Minehead zu, wo sich die spielenden Kinder ganz zu Hause fühlen. An den Wänden hängen Tafeln mit »Peals« in goldenen Buchstaben, die an vergangene Glöcknerleistungen erinnern. Zettel mit Verhaltensregeln im Glockenturm sind an die Wand gepinnt. Auf dem Tisch stehen Coladosen, daneben liegen Zeitschriften. Wären die Glocken nicht, man könnte nur ahnen, daß sich unterhalb des Bodens der ehrwürdige Raum der Kirche erstreckt.
Glockenläuten ist nicht nur harte Arbeit, die ein gewisses Maß an Technik und viel Konzentration erfordert. Schließlich kann der ganze Ort hören, wenn die Band Fehler macht. Die Glockenspieler haben auch ein reges Vereinsleben. Schon immer gehörte es dazu, andere Kirchen zu besuchen und dort die Glocken zu läuten. Auch heute noch werden regelmäßig Treffen veranstaltet, die mit einem Picknick und cream tea gefeiert werden. Wettbewerbe ermitteln die besten Bands. Eine Zeitschrift, »The Ringing World«, inzwischen auch online abrufbar, erscheint jeden Freitag mit den neuesten Nachrichten, die das Herz eines Glöckners bewegen, berichtet über Ereignisse rund ums Läuten und informiert über berühmte Glöckner. Seit 1911 gibt es diese Publikation schon, die sich weiterhin großer Beliebtheit erfreut.
Die Tradition des Glockenläutens im englischen Stil entwickelte sich im 16. Jahrhundert. Mit dem Britischen Empire breitete sich auch diese Art des Glockenspiels in der Welt aus. Die meisten Dorfkirchen haben sechs Glocken, die nur teilweise aus dem Mittelalter stammen. Die meisten wurden später, im 17., 18. und 19. Jahrhundert gegossen, als change-ringing eine Art populärer Dorfsport wurde. Viele Gemeinden sind stolz auf ihre Glocken und haben ihre Geschichten niedergeschrieben. Früher bestand in den Dörfern die Band der Glöckner im wesentlichen aus den Handwerkermeistern des Orts. Die Kunst des Glockenläutens wurde in der Regel vom Vater an den Sohn weitergegeben. Wer zu spät zu Probe oder Gottesdienst kam, mußte eine Strafe zahlen. Am Ende des Jahres wurde die Kasse allerdings unter der Band aufgeteilt und zweifelsohne im nächsten Pub in Getränke umgesetzt! Bis in die 40er Jahre dieses Jahrhunderts sah man nur selten Glöcknerinnen. Heute ist das anders: unter den vier jugendlichen Anfängern in Minehead sind drei Mädchen.
Die Probe in St. Michael’s ist vorbei. Die Glockenstränge werden an der Decke aufgehängt. Die Kirchturmuhr darf wieder die Stunde schlagen. Jung und alt verabschieden sich bis zum Sonntag, dann läuten sie wieder gemeinsam den Gottesdienst ein.
Glockengeläut zieht sich, so Betjeman, durch die englische Literatur, genauso, wie das melodische Spiel, das über die lieblichen Hügel des englischen Südens plätschert, ein Bestandteil des englischen Alltags ist.
Südenglische Überlebensart
England is the paradise of individuality, eccentricity, heresy, anomalies, hobbies and humours.
George Santayana , Soliloquies in England
Die Briten sind anders, stellte Wolf von Lojewski ebenso kurz wie lapidar fest, als es ihn in den 80er Jahren als Fernsehkorrespondent nach London verschlug. Dem kann man nur beipflichten: es handelt sich um eine Erkenntnis, die sich gleichermaßen durch Literatur, Filmwelt, Alltagserfahrungen und Urlaubserinnerungen zieht. Die nichtenglische
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