Gebrochen
Bad verlassen. Ich trat einen Schritt zur Seite und folgte ihm in ein Zimmer. Sein Vater blickte mich argwöhnisch an, sagte aber nichts. Ich konnte ihm nur raten, dass er das beibehielt. Denn so wütend wie ich war, hätte ich ihm am liebsten seine Zähne eingeschlagen – mindestens. Als ich in das Zimmer blickte, in dem Leon verschwunden war, sah ich, dass er ein paar Sachen in eine Tasche warf. Es hatte den Anschein, als würde er das öfter machen, oder aber, es war ihm vollkommen egal, was in der Tasche landete. Erst danach zog er sich an.
Als wir wieder auf den Flur traten, ging ich voraus. Sein Vater stand vor der Eingangstür und fragte barsch: „Wie lange?“
„Für immer“, schnauzte ich zurück. Sein Vater wurde wütend, doch bevor er etwas sagen konnte, fuhr ich fest fort: „Ich nehme Leon mit und Ende. Und bevor sie mir drohen, denken sie daran, dass ich mir die besseren Anwälte leisten kann.“
Es war die Wut, die mich so reden ließ, ansonsten wäre ich vermutlich eher kleinlaut zurückgewichen.
„Drohen sie mir etwa?“, fragte sein Vater lauernd.
„Nicht, wenn sie vernünftig sind. Und jetzt lassen sie uns vorbei“, forderte ich. Sein Vater verengte die Augen zu Schlitzen und musterte mich.
„Sie glauben nicht, dass ich ohne Rückversicherung hier bin, oder?“, fragte ich ebenfalls lauernd. Dabei breitete sich doch ein Unwohlsein in meinem Bauch aus. Gott sei Dank kaufte mir sein Vater den Bluff ganz offensichtlich ab, denn er trat zur Seite, zog sogar die Tür auf. Ich beeilte mich hinaus zu kommen, nicht ohne mich zu versichern, dass Leon mir folgte. Vollkommen teilnahmslos, wie es schien, kam er hinterher. Genauso stieg er in den Wagen. Schweigend fuhr ich los.
Kaum hatte ich die Straße verlassen, atmete ich erleichtert auf. Doch ich versuchte, es nicht zu offensichtlich werden zu lassen. Vermutlich war es egal, denn Leon saß mit gesenktem Kopf neben mir, als würde er nichts um sich herum wahr nehmen. Ich parkte in der Tiefgarage und stieg aus. Leon folgte mir wie selbstverständlich in den Aufzug und den Flur bis zu meiner Wohnung. Alles, ohne ein einziges Mal aufzublicken. Im Wohnzimmer wandte ich mich ihm zu, doch ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Deshalb ging ich schließlich in die Küche und nahm mir etwas zu trinken. Ich musste mich wieder beruhigen. Das hatte mich doch alles ziemlich mitgenommen.
Ich atmete noch zwei Mal tief durch, dann ging ich wieder ins Wohnzimmer. Ich erstarrte mitten im Schritt, als ich ihn sah. Nackt stand er mitten im Raum, den Kopf weiterhin gesenkt. Ich wollte schon zu einer Frage ansetzen. Die Erkenntnis ließ mich schweigen, denn sie schnürte mir die Kehle zu.
„Ich will doch nicht…“, brachte ich mühsam heraus. Keine Reaktion seinerseits. Meine Ruhe war dahin.
„Du kannst auf dem Sofa schlafen. Gute Nacht“, zwang ich mich zu sagen und ging durch das Zimmer, um ins Schlafzimmer zu flüchten. Die Selbstverständlichkeit, mit der er das alles machte, war zum Fürchten. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was er alles durchgemacht hatte. Was er erlitten hatte, bis er dermaßen gebrochen war, dass er scheinbar vollkommen willenlos alles mit sich machen ließ.
Ich zwang meine Gedanken zurück, er war jetzt hier und ich würde die Hoffnung nicht aufgeben, dass er sich wieder fangen würde. Dass er zumindest bis zu einem gewissen Grad wieder leben konnte.
***
Am Morgen stand ich leise auf und warf einen Blick ins Wohnzimmer. Leon lag auf dem Boden, mit einem Kissen und der Decke vom Sofa. Er lag eingerollt, wie ein kleines Kind, tief und fest schlafend. Ich beschloss auswärts zu frühstücken, um ihn nicht zu wecken. Ich schrieb einen Zettel, er sollte sich wie zu Hause fühlen und meine Handynummer, damit er mich erreichen konnte. Dann zog ich leise die Tür ins Schloss.
Mit meiner Konzentration war es nicht sehr weit her heute. Ständig kreisten meine Gedanken um Leon. Nach dem Mittagessen packte mich das schlechte Gewissen. Ich hatte ihn aus seiner Umgebung gerissen – so furchtbar die sein mochte – und alleine gelassen. Wie nur, würde er damit klar kommen?
Mehr als eine Stunde zu früh, machte ich Schluss. Ich hielt es einfach nicht mehr aus. So schnell wie möglich steuerte ich durch den Verkehr, beeilte mich nach oben. Gerade als ich den Lift auf meinem Stockwerk verließ, hörte ich einen Schrei aus meiner Wohnung. Einen Moment erstarrte ich, dann rannte ich los. Ich schloss auf und lief ins Wohnzimmer, dann
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