Gefaehrlich begabt
das Schlaflied, das ihre Mutter immer für sie gesungen hatte. Ein dunkler Schatten bewegte sich auf sie zu. Sofort raste ihr Herz wie wild.
»Marla? Hier ist irgendwas.« Ihre Stimme bebte.
»Anna …« Marla flüsterte ihren Namen.
Anna riss panisch die Augen auf, um aus dem Schattenreich aufzutauchen. Marla saß noch vor ihr, sie lächelte.
»Ich kann das nicht, da war irgendwas.«
»Schau an die Wand«, antwortete Marla mit ruhiger Stimme und deutete mit einer Kopfbewegung an die Wohnzimmertapete.
Sie keuchte auf. Einen Moment setzte ihr Herzschlag aus und genehmigte sich eine Pause von der anstrengenden Raserei. Das Blut wich ihr aus den Gliedern. Zu den Schatten hatten sich einige weitere gesellt. Zwischen den Kerzen hockten vier Gestalten, sie bewegten sich nicht.
»Was ist das?« Sie suchte den Kreis ab, aber die Umrisse der Erscheinungen ließen sich nur in den Schatten erkennen.
»Das sind Schattenwesen.«
Der Ausdruck klang nicht gerade ungefährlich. »Was wollen sie?«
»Sie wollen nichts, hab keine Angst. Diese Seelen befinden sich noch im Übergang. Sie schweben zwischen Leben und Tod.«
»Können sie uns sehen?«
Marla schüttelte sanft den Kopf. »Nein, aber vermutlich können sie dich spüren.«
»Muss ich irgendwas tun?« Die Angst ebbte langsam ab, doch das unheimliche Gefühl beschlich sie weiterhin. Mit großen Augen sah sie die Wesen an und biss sich auf die Unterlippe.
»Du kannst nichts tun. Sie müssen ihren Weg allein finden.«
»Sie gehen in den Tod?« Der Gedanke, dass irgendwo auf der Welt genau diese Menschen starben, ließ Tränen in ihr aufsteigen. Sie liefen ihr die Wange hinunter und tropften ihr T-Shirt nass.
»Die meisten schon, nehme ich an. Aber sie tun es von allein.«
»Ganz schön gruselig. Wie werden wir sie wieder los?« Anna wollte nicht länger die sterbenden Seelen betrachten. Es kam ihr falsch vor.
»Blas die Kerzen aus. Wenn die Magie des Kreises bricht, werden sie ihren Weg fortsetzen.«
Langsam richtete sie sich auf und pustete nach und nach die Kerzen aus. Die Schattenwand ließ sie dabei nicht aus den Augen. Auch Marla saß nicht länger auf ihrem Platz, sondern bewegte sich durch das mittlerweile düstere Zimmer und knipste das Licht an. Der Spuk verrauchte. Ihre Gliedmaßen wogen schwer wie Blei. Ihr Kopf dröhnte und sie unterdrückte ein Gähnen.
»Komm, wir gehen in die Küche und trinken einen Tee. Lassen wir den Kreis für das nächste Mal einfach aufgebaut.«
Sie folgte Marla aus dem Wohnzimmer und wunderte sich, als ihr Blick auf die Küchenuhr fiel. Es war spät geworden, obwohl nach ihrem Empfinden nur ein paar Minuten vergangen waren.
10. Kapitel
Komplimente von Halbgöttern
M arla reichte ihr eine dampfende Tasse. »Wie fühlst du dich?«
Anna versuchte, ihre Gefühle in Worte zu packen, aber es gelang ihr nicht. »Ausgelaugt«, antwortete sie deshalb wahrheitsgemäß. Es umschrieb ihr Empfinden teilweise. »Ist es immer so anstrengend?«
»Ja, das ist es. Wenn ich mich mit meiner Hexerei verausgabe, brauche ich erst mal einen halben Tag Schlaf.« Sie lachte.
»Wieso war es bei Evas Erscheinung anders? Ich habe mich nicht so erschöpft gefühlt.« Ihre Kehle brannte und ihre Stimme klang kehlig.
»Eva kennt dein Talent. Sie weiß genau, wie sie deine Begabung hervorlocken kann, ohne dass du nur einen Handschlag dafür tun musst. Es ist etwas völlig anderes.«
Aus dem Flur schallte ein fröhliches Lachen, Sebastian und Jenny kamen aus dem Kino zurück.
»Hi«, brachte Jenny unter einem Lachanfall hervor.
»Na, ihr scheint ja Spaß gehabt zu haben.« Marla nahm ihr die Tasche ab.
Sebastian betrat die Küche. »Ihr seid schon fertig?« Sein Blick blieb an ihr hängen.
Auch heute ließen seine eisblauen Augen Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzen, und sie fand keine Worte, um zu antworten. Sie hasste das, eigentlich gehörte sie zu den schlagfertigen Menschen.
»Fix und fertig, oder Anna?« Marla stellte zwei weitere Tassen auf den Tisch.
»Ja, ich bin groggy. Ich sehne mich einfach nur nach meinem Bett.« Sie errötete, als sie darüber nachdachte, dass sie vielleicht genauso aussah. Na ja, Sebastian spielte ohnehin in einer anderen Liga, da machte es kaum einen Unterschied, ob sie müde wirkte oder sich herausputzte.
»Soll ich dich fahren?« Erwartungsvoll nagelte sein Blick sie fest.
Ein zweites Mal abzulehnen wäre unhöflich, außerdem lief sie Gefahr, in der S-Bahn einzuschlafen. »Okay«, antwortete sie leise
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