Gefaehrlich begabt
möglich zwischen ihn und sich zu bringen. Ein letztes Mal trieb sie ihr innerer Motor an, der inzwischen pochte, als wollte er nicht länger in ihrem Körper verweilen. Sie robbte rückwärts, bis ein Baum ihre Weiterflucht verhinderte.
»Hab keine Angst«, sagte Sebastian, seine eisblauen Augen füllten sich mit Tränen.
Anna rang nach Luft und presste sich gegen den Stamm. Sie schaffte es keinen Meter weiter.
Die Millionendollarfrage schoss ihr in den Kopf. Sie kannte die Antwort und doch musste sie es von ihm hören. Es interessierte sowieso nicht mehr, was geschah. Sie schöpfte das letzte bisschen Kraft und stellte die Frage, deren Antwort das Schlimmste bedeutete.
»Wer bist du?« Sie flüsterte kaum.
Er hielt ihrem bohrenden Blick nicht stand und raufte sich durchs Haar.
Anna wiederholte ihre Frage, überarbeitete aber die Wortwahl. »Was bist du?«
Sebastian erlangte seine Kontrolle zurück, sein Gesicht gefror zu Eis. »Mein Name ist Sebastian Fingerless und ich bin ein Magier«, sagte er mit kalter Stimme.
Ihre Welt begann sich rasant zu drehen, bevor sie in tausend Scherben zersprang. Seine Antwort war mehr, als sie verkraften konnte.
23. Kapitel
Arena
I m Leben trat man an viele Abgründe, einer schwärzer als der andere. Es waren tiefe, dunkle Löcher und es gab zwei Möglichkeiten, mit ihnen fertig zu werden: Entweder man sprang, oder man fiel. In der Regel gehörte Anna zu den Springern, denn sie war mutig und wusste, dass es auf der anderen Seite Licht gab. Heute hatte sie keine Chance, noch nicht einmal die Möglichkeit, darüber nachzudenken. Denn sie fiel. Ohne Vorwarnung, und ohne dass sie von dem Loch überhaupt etwas gewusst hatte.
Anna starrte zu Sebastian hinüber. Sie verstand das Gehörte und begriff es, trotzdem durfte es nicht wahr sein.
»Wieso?«, fragte sie mit Tränen in den Augen. Sie hörte die eigenen Worte nicht, so laut schlug ihr Herz.
»Bitte, hab doch keine Angst«, antwortete Sebastian sanft. Sein Gesicht verwandelte sich zurück. Die lieblichen Züge, die sie so übertrieben liebte, tauchten unter der Fassade auf. Er trat ein Stück näher an sie heran, ein leiser Aufschrei entfuhr ihr.
»Komm mir bloß nicht zu nah!«
»Ich könnte dir nie etwas tun.«
An seinem Blick erkannte sie, dass er die Wahrheit sagte und doch änderte das nichts. »Geh weg«, schluchzte sie.
»Anna, dein Bein. Es sieht schlimm aus.« Er deutete auf ihren Unterschenkel und der Schmerz trat zurück in ihr Bewusstsein. Martinshörner erklangen in der Ferne und erinnerten sie an das, was geschehen war. »Sie sind alle tot, oder?«, fragte sie. Ihre Stimme begleitete ein Weinkrampf. »Alle, sie sind einfach alle tot!«
Sebastian nickte. Er beugte sich zu ihr herunter. Behutsam streckte er seine Hand aus und zog sie vorsichtig an sich.
Anna gab auf, sie besaß nicht die Kraft, sich länger zu sträuben. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und weinte. Der Tod dieser Menschen, Sebastians Verrat, ihre Verzweiflung und ihr Schmerz … Für alles ließ sie Tränen. Sebastian schwieg. Es gab kein Wort, das die Realität wieder in Ordnung brachte.
»Ich muss mir dein Bein ansehen«, sagte er und löste sich von ihr. »Die Rettungskräfte werden uns hier nicht finden.«
Anna hob den Kopf und blickte sich um. Sie befanden sich in einem Stück Forst neben der Autobahn. Wenige Meter von ihnen entfernt ging es tief hinunter in die Todesschlucht der Businsassen. Noch immer waberten Rauchschwaden umher, auf der Autobahn erkannte sie mehrere Blaulichter.
»Anna, ich muss dein Bein nachsehen, okay?«, wiederholte er.
Sie nickte zaghaft.
Sebastian schob das Hosenbein hoch oder vielmehr die Fetzen, die davon übrig waren. Sie biss sich auf die Lippe und unterdrückte ein Stöhnen. Schon oft hatte sie sich verletzt, aber dieser Schmerz ließ sich mit nichts vergleichen. Sie kniff die Augen zusammen, andernfalls würde sie das Bewusstsein verlieren.
»Du musst ins Krankenhaus. Meinst du, du kannst aufstehen, wenn ich dir helfe?«
Bedacht darauf, ihr Bein nicht anzusehen, zuckte sie die Schultern. Allein vor der Vorstellung graute es ihr. Aber was blieb ihr übrig? Sie versuchte es. Mühsam zog sie sich am Stamm hoch. Sebastian griff ihr stützend unter die Arme, doch sie schaffte es nicht. Der stechende Schmerz ließ sie in sich zusammensacken.
»Ich werde Hilfe holen«, sagte er.
»Nein!« Sie schüttelte wild den Kopf. Sie wollte nicht allein zurückbleiben.
»Anna, es kann Stunden dauern,
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