Gefaehrlich begabt
Er macht einen Fehler, den hier anscheinend jeder macht. Er unterschätzt mich.«
»Was meinst du damit?«
»Ach, ein paar kindlich naive Fragen hier, eine paar Kommentare darüber, wie vorbildlich doch die alten Jäger waren da und sie waren bereit, zu plaudern. Sie erzählten mir, der braven Nacheiferin der verstorbenen Idole, wer alles im vergangenen Team dabei gewesen ist. Sie gaben mir Fotos, Namen, einfach alles. Das Einzige, was du zu tun hast, ist, in die Schatten zu spazieren und doof nachzufragen.«
»Jenny, du bist genial!« Und das meinte sie genau so, wie sie es sagte. Dieses Schlitzohr! Von ihr konnte sich so manch einer eine Scheibe abschneiden. Sie unterschätzten sie wirklich.
»Ich weiß. Und sobald wir wissen, wo man die Geiseln hingebracht hat, verschwinden wir, befreien sie und treten den alten Säcken in den Arsch!«
Das klang nicht ansatzweise so leicht, wie sie es ausplauderte, aber immerhin war es ein Plan.
»Am späten Nachmittag will man uns noch einige Dinge zur Verteidigung beibringen. Morgen sollen wir unsere neuen Gaben bekommen. Uns bleibt also nicht ewig Zeit. Danach werden wir wohl bald abreisen. Heute Abend, wenn alle schlafen? Du besorgst die Kerzen und ich krame mal in Moms Gepäck nach Lavendel. Einverstanden?«
Anna nickte enthusiastisch. Ihre Tränen waren längst versiegt. »Einverstanden.«
»Bis dahin mach gefälligst gute Miene zum bösen Spiel. Nicht, dass uns noch jemand auf die Schliche kommt. Ich will nicht, dass sie auch nur den Hauch einer Ahnung haben, dass wir etwas aushecken könnten. Verstanden?«
»Absolut. Ich reiß mich zusammen.« Es schwang wenig Überzeugung mit, aber es musste für den Moment genügen.
»Super, ich bin gegen elf bei dir, aber wir sehen uns gleich im Konferenzsaal.« Jenny nickte ihr zu und verschwand auf den Flur, wohlbedacht, dass niemand sie sah.
Die kleine Jenny … Wer hätte das gedacht? Wenn Marla bei Verstand wäre, ihr spränge das Herz vor Stolz aus der Brust.
30. Kapitel
Stärken und Schwächen
D er Nachmittag zog sich quälend in die Länge. Hier gab es absolut nichts, womit man sich beschäftigen konnte. Na ja, ganz entsprach das nicht der Wahrheit. Es gab ein Zimmer voller Bücher. Weil es aber winzig war, sträubte sich Anna dagegen, es als Bibliothek zu bezeichnen. Mit einem Haufen Gesellschaftsspiele wollte sie sich auch nicht ablenken. Sie überkam weder die Lust, in historischen Geschichten von England zu blättern, noch einen ihrer Ansichtsgegner um eine vergnügte Partie Mensch-Ärger-Dich-Nicht zu bitten.
Die gähnende Langeweile half nicht gegen ihr Kopfkino. Zukunft, Vergangenheit, Gegenwart … Über was sie auch nur ansatzweise nachdachte, führte auf direktem Weg zu Sebastian. Sie wunderte sich, wie schnell sie akzeptierte, was und wer er war. Es dauerte bloß einen Bruchteil von Sekunden, bis sie sich eingestand, dass sie ihn trotzdem liebte. Vielleicht, weil sie seit ihrer ersten Begegnung mit dem unterschwelligen Verdacht lebte, dass er gefährlich war.
Am späten Nachmittag klopfte es an ihrer Zimmertür. Sie lag auf dem Bett, in Grübeleien vertieft und blickte auf. Robert Pearson betrat den Raum.
»Was wollen Sie?«, fragte sie scharf. Sie hatte beschlossen, nicht allzu freundlich aufzutreten. Eine plötzliche 180-Grad-Wendung glaubte ihr sowieso niemand.
»Ich denke, wir sollten uns unterhalten, bevor wir uns zu den anderen in den Konferenzsaal begeben.«
»Und über was? Keine Sorge, ich werde Sie schon nicht hängen lassen. Mit Ihrer Methode lassen Sie mir schließlich keine Wahl.«
Die hart ausgesprochenen Worte hingen im Raum, aber Robert Pearson setzte sich unbeeindruckt neben sie. »Ich möchte, dass Sie wissen, dass wir in guter und reiner Absicht handeln, Anna. Der junge Fingerless hat Sie durcheinandergebracht und das ist verständlich. Damen in Ihrem Alter sind sehr empfänglich für diese Art von Angriffen.«
»Der Versuch ist zwecklos, Mr. Pearson.« Anna funkelte ihn an. »Ich will Ihre Freundschaft nicht und Sie brauchen auch meine nicht. Wir werden die Fingerless erledigen und dann hoffentlich nie wieder voneinander hören.« O ja, sie spielte ihre Rolle gut, denn der Ausdruck im Gesicht des alten Mannes besagte, dass er ihr glaubte. Wer eine Weile mit Sebastian verbracht hatte, der konnte eben schauspielern.
»Ich hatte trotzdem gehofft, dass wir Sie überzeugen können, anstatt zwingen zu müssen.«
»Wissen Sie, Mr. Pearson. Es geht nicht nur um Sebastian. Es geht um
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