Gefaehrliches Verlangen
in West London anruft.
Draußen schüttet es, und aus irgendeinem Grund lässt mich das schlechte Wetter ahnen, dass der Anruf nichts Gutes verheißt.
»Sophia Rose?«, fragt eine Frauenstimme, als ich mich melde.
»Ja. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich rufe aus der Tower Clinic an. Soweit ich informiert bin, wollten Sie heute Miss Blackwell besuchen.«
»Ja. Ich wollte gerade aufbrechen.« Ich sehe aus dem Fenster, wo der Regen auf das schwarze Dach der Limousine prasselt und an den getönten Scheiben hinunterläuft. »Ist alles in Ordnung?«
Stille.
»Miss Blackwell hat vor mehreren Stunden die Klinik verlassen. Ich dachte, ich sollte Ihnen Bescheid sagen, damit Sie nicht umsonst herkommen.«
»Sie hat die Klinik verlassen? Aber … warum?«
»Sie hat heute Morgen schlechte Nachrichten bekommen. Es ging wohl um das Sorgerecht ihres Sohnes. Und dann ist sie einfach verschwunden.« Wieder schweigt die Frau für einen Moment. »Manchmal ist die Sucht leider stärker. Etwa die Hälfte unserer Patienten brechen die Therapie ab und kehren in ihr altes Leben zurück.«
Ich schüttle den Kopf. »Aber sie hat sich doch so wacker geschlagen. Ich hätte nicht gedacht, dass sie alles hinschmeißt. Auch nicht, weil etwas nicht so läuft, wie sie es sich vorstellt. Und Sie sind ganz sicher, dass sie nicht mehr da ist?«
»Wir haben in ihrem Zimmer nachgesehen. Und auch im Speisesaal und im Ruheraum.«
Ich nehme meine Tasche. »Hat jemand das Gelände abgesucht?«
»Ich bezweifle, dass sie bei diesem Wetter draußen herumläuft.«
Der Regen platscht gegen die Fensterscheiben. Mir ist bewusst, dass Annabel schon mehrfach rückfällig geworden ist, und vielleicht ist es naiv von mir, aber ich glaube nicht, dass sie aufgeben würde. Mein Bauch sagt mir, dass sie noch in der Klinik ist. Irgendwo. Allein und todunglücklich.
»Ich komme trotzdem vorbei«, sage ich zu der Frau, ziehe meinen Mantel an und gehe zur Tür.
»Fährst du zu Annabel, Soph?«, ruft Jen aus dem Esszimmer.
»Ja. Wir sehen uns später.«
»Willst du denn nicht frühstücken? Rodney macht Pfannkuchen.«
»Nein«, rufe ich und laufe in den Sturm hinaus. »Ich esse im Krankenhaus eine Kleinigkeit. Bis später.«
❧ 64
A ls Erstes sehe ich in Annabels Zimmer nach, nur für alle Fälle, aber sie ist nicht da, also laufe ich nach draußen und suche das Gelände nach ihr ab.
Da es immer noch wie aus Eimern gießt, bin ich innerhalb von Minuten nass bis auf die Haut, doch das ist mir egal. Ich muss Annabel finden.
Nachdem ich einmal das gesamte Gebäude umrundet habe, laufe ich in westlicher Richtung durch den Park. Das Gelände ist riesig und so dicht bewachsen, dass ich nur wenige Meter weit sehen kann.
Schließlich erreiche ich einen grauen Felsbrocken unter einer Tanne, der dank der dichten Äste halbwegs trocken geblieben ist. Ich kauere mich darauf und merke erst jetzt, dass mir vor Hunger fast schwindlig ist.
Ich lausche meinen raschen Atemzügen.
Nach einer Weile, als sich meine Ohren an das stete Rauschen des Regens gewöhnt haben, vernehme ich ein anderes Geräusch. Ein verzweifeltes, ersticktes Schluchzen.
Das ist Annabel, ganz sicher.
Ich springe auf und renne über die matschigen Wege in die Richtung, aus der das Schluchzen dringt. Immer wieder muss ich stehen bleiben und lauschen.
Fünf Minuten später habe ich sie gefunden. Sie kauert unter einer großen Eiche und ist völlig durchnässt.
Ich gehe neben ihr in die Hocke und lege die Hand auf ihre bebenden Schultern.
»Annabel, ich bin’s, Sophia.«
Das Weinen wird etwas leiser, und sie hebt den Kopf. »Sophia. Wie hast du mich gefunden?«
»Ich habe dich überall gesucht.«
»Du bist ja ganz nass. Bitte, geh ins Haus und lass mich hier draußen sitzen. Ich bin doch sowieso zu nichts nütze.«
»Ohne dich gehe ich nirgendwohin. Möchtest du mir vielleicht erzählen, was passiert ist?«
Wieder bricht sie in Tränen aus, so sehr, dass ihr gesamter Körper minutenlang von heftigen Schluchzern geschüttelt wird. Ich lasse sie weinen.
»Was ist passiert?«, frage ich schließlich mit sanfter Stimme.
»Ich bekomme Daniel nicht zurück«, presst sie hervor. »Selbst wenn ich ein Zuhause habe und Unterstützung bekomme. Sie sagen, dass er adoptiert wird. Und dass er einen neuen Nachnamen bekommt. Und ich darf seinen neuen Namen noch nicht einmal erfahren.« Wieder kommen die Tränen. Sie schlingt die Arme um die Knie und weint abermals haltlos.
»Wer sagt das?«
»Heute
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