Gefahrliches Vermachtnis
liebte, die ihm das Gesetz und die Gepflogenheiten verboten.
„Warum ist das so?“, fragte er. „Du warst doch diejenige, diemir beigebracht hat, dass alle Menschen gleich sind.“
Aurore wischte sich mit einem Tuch über die Augen, vermied es aber, ihn anzusehen. „Du musst mir zwei Dinge erzählen, bevor ich gehen kann. Ist Nickys echter Name Nicolette Cantrelle?“
„Dann ist es dein Foto in ihrem Medaillon! Du kanntest sie als Kind. Ihre Mutter war deine Freundin.“
„Wie kam sie nach Frankreich, Hugh? Weißt du, mit wem sie dorthin gegangen ist? Wie alt sie damals war?“
„Sie ging mit einem Freund ihres Vaters nach Paris. Einem Jazzmusiker, Clarence Valentine. Ihr Vater wurde in Chicago getötet.“
Aurore presste das Taschentuch gegen ihren Mund. Während er sprach, schien sie immer mehr zu erblassen und zu altern. Seine Wut wurde vom Gefühl der Angst verdrängt. Und plötzlich wusste er die Antwort. Eine undenkbare Antwort. Er wollte aus dem Zimmer fliehen.
„Setz dich, Hugh!“
„Sag es einfach.“
„Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass du Nicky nicht wiedersehen darfst? Vertraust du mir, weil du bisher noch nie einen Grund hattest, an meinem Wort zu zweifeln?“
Er kannte die Wahrheit bereits. Sie stand auf einmal glasklar vor ihm. Aber er schüttelte langsam den Kopf. Falls er gezwungen war, mit diesem Albtraum zu leben, dann wollte er es aus ihrem Mund hören.
Sie blickte ihm in die Augen und bat wortlos um Verzeihung. „Nicky ist deine Schwester, Hugh. Sie war mein erstes Kind. Und jetzt weißt du, warum du niemals wieder nach Marokko zurückkehren darfst.“
Aurore hatte Hugh verloren und auch ihre Tochter Nicolette, obwohl sie gar nicht tot war.
Sie starrte aus dem Zugfenster auf die große Sumpflandschaft, die zu New Orleans gehörte. Ihre Beine schmerzten,aber ihr Herz schmerzte noch mehr. Selbst wenn Aurore in der Lage gewesen wäre, sich ein Bett im Schlafwagenabteil zu buchen, hätte sie nicht schlafen können. Die Landschaft bewahrte sie vor dem Durchdrehen. Wie als Kind hatte sie Kühe am Wegrand gezählt und nach Einbruch der Dunkelheit die Lichter der Häuser. Nur um nicht an den Gesichtsausdruck ihres Sohnes denken zu müssen, als er die Wahrheit begriffen hatte.
Er hatte aufrecht dagestanden. Wie ein Soldat. Und er war vor ihren Augen um hundert Jahre gealtert.
„Du wusstest es nicht“, hatte sie gesagt. „Du konntest nicht wissen, dass sie deine Schwester ist. Gott wird dir vergeben.“
„Glaubst du, es ist nur Gott, der mir Sorgen macht?“, hatte er schließlich gefragt. „Sorgst du dich wenigstens ein kleines bisschen um deine Tochter?“
Aurore hatte versucht, ihm zu erklären, dass sie dreiundzwanzig Jahre lang geglaubt hatte, Nicolette sei tot. Sie hatte versucht, ihm verständlich zu machen, wie sehr sie Nickys Vater geliebt hatte, aber dass sie nicht mutig genug gewesen war, um sich über Generationen voller Hass hinwegzusetzen. Sie hatte ihm von den beiden Malen, als sie mit ihrer Tochter gesprochen hatte, erzählt und von der schrecklichen Qual, ihr eigenes Kind wegzugeben. Und wie sie sich gefühlt hatte, als sie erfuhr, dass Nicolette gestorben war. Hughs Gesichtsausdruck hatte sich nicht mehr geändert. Womöglich würde er sich nie mehr ändern. Hughs Wunden waren so tief; sie würden jeden Atemzug, jeden Schritt seines zukünftigen Lebens beeinflussen.
„Du hast sie nicht gewollt.“ Er schüttelte den Kopf. „Wie konntest du dein eigenes Fleisch und Blut nicht wollen?“
„Ich konnte sie nicht behalten! Wo hätte ich mit ihr hingehen sollen?“
„Und jetzt? Möchtest du sie wiedersehen? Bist du froh, dass sie noch lebt?“
„Ich weiß nicht, was ich fühlen soll! Sie lebt und du liebst sie. Ich habe euer beider Leben zerstört.“
„Ja.“ Hugh hatte sich von ihr abgewandt.
„Hugh, du darfst es ihr nicht sagen!“
„Du stehst immer noch nicht zu ihr. Wir leben in einer anderen Zeit, und du bekennst dich immer noch nicht zu ihr.“
„Nein! Denk nach! Würdest du ihr wirklich sagen, dass du ihr Bruder bist? Was wäre schlimmer für sie? Wenn du aus ihrem Leben verschwindest – oder wenn sie wüsste, dass sie mit ihrem Bruder …?“ Sie konnte nicht zu Ende sprechen.
Hugh murmelte etwas, das sich wie ein Gebet anhörte.
„Und das ist noch nicht alles“, fuhr Aurore fort. „Dein Vater wird immer unberechenbarer. Was wird er tun, wenn er herausfindet, dass Nicolette noch immer am Leben ist? Er ist zu allem fähig,
Weitere Kostenlose Bücher