Gefangene der Dämmerung: Ravenwood 2 - Roman (German Edition)
nicht?«
»Oh, das tut er sehr wohl. Immerhin hat er Gabriel verwandelt und Gabriel mich. Und das bedeutet, dass man ihn auch irgendwo finden kann.«
»Aber wo sollen wir nach ihm suchen?«
»In Ravenwood natürlich«, antwortete Jessica.
»Aus Ihrem Mund klingt das so offensichtlich.«
»Ist es auch. Genau das ist doch der springende Punkt. Die Offensichtlichkeit. Der Regent und mit ihm alle Vampire haben sich stets im Verborgenen gehalten. Sie sind nachts durch die Gegend geschlichen, haben nach Spendern gesucht und Füchse getötet, aber sie haben niemals Leichen herumliegen lassen, wodurch sie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen hätten. Mit Ravenwood dagegen verhält sich das Ganze anders. Jeder kann es sehen, wenn er nur will. Und ich bin sicher, schon bald wird es noch mehr Leute geben, denen auffällt, was hier vor sich geht.«
»Haben sie vor, die Weltherrschaft an sich zu reißen?«, fragte April.
Jessica lächelte. »Keine Ahnung, April. Möglich. Aber für den Augenblick solltest du dich lieber auf Highgate konzentrieren.«
»Aber wie soll ich den Regenten finden? Ist er derjenige, der in Ravenwood die Fäden zieht?«
Jessica sah April aus ihren großen grünen Augen an.
»Vielleicht solltest du deinen Großvater fragen.«
April hatte Stanton noch nie leiden können. Der Butler ihres Großvaters war ihr schon immer steinalt vorgekommen – und ein wenig unheimlich, so wie ein Dienstbote aus einer Gruselgeschichte. Und damit nicht genug: Der alte Mann schien sie jedes Mal missbilligend anzusehen, wenn er ihr die Tür des Hauses in Covent Garden aufmachte, als schleppe sie die Pest ins Haus. »Dein Großvater ist in seinem Arbeitszimmer«, erklärte er. »Wenn du mir bitte folgen möchtest …«
Ich kenne den Weg , dachte April, trottete aber brav hinter dem alten Mann im Schneckentempo durch die pompöse Eingangshalle mit den hohen Säulen her. Doch so hatte sie wenigstens Gelegenheit, sich zu überlegen, was sie sagen sollte. Sie konnte wohl schlecht mit einer Frage à la »Weißt du, wer hinter Ravenwood steckt, Grandpa?« herausplatzen, oder? Damit würde sie nur seinen Argwohn wecken und ihn in die Defensive treiben, sodass er erst recht nichts mehr sagen würde. Das hatte sie schon oft genug in den Krimis im Fernsehen gesehen. Wäre das doch auch nur ein Fernsehkrimi , dachte sie. Dann gäbe es wenigstens die Garantie, dass die Guten am Ende siegten. April ließ den Blick über die Ahnengalerie an den Wänden schweifen. Ihre Vorfahren schienen ihre Anwesenheit ebenso zu missbilligen wie Stanton. Vielleicht war das ja ein geeignetes Thema, um das Gespräch zu eröffnen – sie könnte ihn über Mums Seite der Familie und die Geburtsurkunde ausfragen, die sie im Keller gefunden hatte. Nicht dass Grandpa besonders versessen darauf war, aus dem Familiennähkästchen zu plaudern. Er war der typische Einwanderer: Sobald die Sprache auf die »alte Heimat« mit den verschwommenen Erinnerungen an dichte Wälder und hohe Berge kam, kriegte er feuchte Augen, doch wenn man ihm vorschlug, dorthin zurückzukehren, begann er, wüst über sein Land zu schimpfen – über Stammesfehden, Typhus und die Tatsache, dass es nur sonntags elektrischen Strom in den Häusern gegeben hatte.
Stimmen drangen aus dem Arbeitszimmer, als sie sich ihm näherten – die ihres Großvaters und eines anderen Mannes. April wünschte, sie hätte vorher angerufen. In der Gegenwart eines Fremden konnte sie ihren Großvater wohl kaum über die Familiengeschichte ausfragen. Doch der Besucher entpuppte sich als jemand, den sie nur zu gut kannte.
»Onkel Luke«, rief April, als sie den Raum betrat.
»Hallo, da ist ja meine kleine Nichte«, begrüßte Luke sie und schloss sie in die Arme. »Wie schön, dich gesund und wohlauf zu sehen«, fügte er vielsagend mit einem Seitenblick auf Thomas hinzu.
»Wo zum Teufel hast du gesteckt, April«, schimpfte ihr Großvater mit finsterer Miene. »Deine Mutter ruft schon den ganzen Nachmittag hier an, weil sie denkt, jemand hätte dich entführt oder noch Schlimmeres. Es würde mich nicht wundern, wenn sie inzwischen die Polizei alarmiert hätte.«
»Ich hatte etwas Wichtiges zu erledigen«, antwortete April trotzig. Sie hatte die gewohnte herzliche Umarmung erwartet, andererseits hätte sie wissen müssen, dass Silvia längst ihren Großvater eingeschaltet hatte, nachdem sie nicht auf direktem Weg von der Schule nach Hause zurückgekehrt war.
»Und das war so wichtig,
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