Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
lehnte sich gegen ihren Gefährten und streckte sich. Ein Bediensteter ging am Kamin vorbei. Schneller fast, als Aeriels Augen wahrnehmen konnten, hatte das Mädchen ihm sechs Oliven vom Tablett gestohlen. Der Bedienstete ging ungerührt weiter.
Dann warf das Mädchen die Früchte kreisförmig in die Luft. Der Kreis veränderte seine Form zu einer Acht. Abrupt drehte sie sich um, und der Junge und sie warfen sich gegenseitig die Oliven zu, bis der junge Mann sie mit einer Hand allein kreisen ließ.
Aeriel starrte ihn verwundert an. Noch nie hatte sie so etwas gesehen. Das Mädchen sprang auf, machte zwei Überschläge, kam wieder auf die Füße und deutete mit einer anmutigen Geste erst auf sich, dann auf ihren Gefährten.
»Nat und Galnor, reisende Artisten. Vollbringer von Bravourstücken, um andere zu entzücken.«
Ihr Gefährte fing alle sechs Oliven wieder ein. Drei gab er Nat, die Aeriel eine anbot. Aeriel nahm dankbar an und biss in das dunkle, salzige Fleisch. Sie verspürte jetzt wieder Hunger und Durst. Sie legte ihre Laute auf den Boden und sah sich um, um herauszufinden, wann das Abendessen serviert würde.
Draußen wurde es dunkel. Der Sonnenstern ging unter. Aeriel konnte die Abendkühle selbst so nahe am Feuer spüren. Bedienstete schlossen und verbarrikadierten die Fensterläden. Fackeln wurden entzündet, die Tür geschlossen. Die Gäste an den Tischen verlangten nach ihrer Mahlzeit.
Die Speisen wurden fast sofort aufgetragen: große Tabletts mit Brot, gebratenem Fleisch, Körbe mit violetten Pflaumen. Den dreien am Kamin gab man nichts, und nun, nach dem Genuss einer einzigen Olive, fühlte Aeriel, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief; ihre Glieder waren schwach vor Hunger.
»Nun«, murmelte Nat nach einer Weile. »Wie ich sehe, geben sie uns nichts.« Sie sah Aeriel mit einem Lächeln an. »Geschickte Finger können nicht nur Jonglieren.«
Dann stand sie auf und glitt zwischen die Tische, jonglierte zuerst mit leeren Krügen und Tabletts für einen Bissen Essen oder einen Schluck Bier. Nachdem sie ihren größten Hunger gestillt hatten, gaben ihr einige Gäste größere Stücke, und schließlich kehrte sie reich beschenkt an den Kamin zurück.
Aeriel aß dankbar: frische Äpfel, gebackene Kuchen und Flügel von Waldeidechsen. Sie fütterte auch die kleine Sandlanguste
mit Krümeln, und einmal stahl Galnor so geschickt volle Bierkrüge, dass der Bedienstete nichts merkte.
Gerade als Aeriel den schweren Krug mit dem süß duftenden Honigbier an die Lippen hob, ertönte außerhalb des Gasthauses ein seltsam wilder Schrei. Zitternd setzte sie den Krug ab. Plötzlich wurde es in der Taverne viel leiser. Viele starrten auf die halboffene Tür.
Der Schrei dauerte an. Aeriel fühlte, wie sie ein Schauder überlief. Dann erstarb die geisterhafte Klage, und die Gäste wandten sich wieder ihren Speisen und der Unterhaltung zu. Der Lärm erreichte wieder seine normale Lautstärke. Aeriel sah das Mädchen neben sich an.
»Was war das?«
Nat blickte auf, leckte von ihren Fingern das Fett ab. Sie zuckte mit den Schultern. »Nur die Bestie. Seit sie sie hierhergebracht haben, heult sie immer wieder.«
»Was ist das für eine Bestie?«, fragte Aeriel.
Nat sah sie jetzt ernst an. »Weißt du das nicht? Die Bestie hat das ganze Land die letzten Tagmonate in Angst und Schrecken versetzt.«
Aeriel schüttelte den Kopf. »Was hat sie getan?«
»Es wird behauptet«, erklärte Nat, »dass sie einem ehrlichen Reisenden nie etwas getan hat, Diebe aber schlug sie in die Flucht. Und mehr als einer hat ihre Zähne zu spüren bekommen. «
Das Mädchen beugte sich näher zu Aeriel.
»Die Händler blieben aus vor Angst, und Reisende wagten nicht mehr die Straßen zu benutzen, selbst tagsüber. Man reiste
nur noch im Schutz schwer bewaffneter Karawanen, was dem Gewerbe der Diebe sehr schadete. Also machten sich in der Dämmerung dieses Tagmonats die Arlisch-Banditen auf die Suche nach ihr. Und sie nahmen sie gefangen, denn vor ein paar Stunden brachten sie sie in einem hölzernen Käfig in die Stadt.« Sie nickte. »Die Banditen sitzen da drüben.«
Aeriel folgte ihrem Blick und sah eine Gruppe bunt gewandeter Männer und Frauen an einem Tisch in der Mitte sitzen, sie hatte sie vorher kaum beachtet. Die meisten von ihnen trugen goldene Ringe in einem Ohr, und ihr Anführer war mit einem silbernen Reif um den nackten Oberarm geschmückt. Alle waren mit Dolchen bewaffnet. Sie aßen von den feinsten Speisen,
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