Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
rief sie. »Nach so langer Zeit habe ich nicht erwartet, dich wiederzusehen. Ich glaubte, du wärst mit der Königin gegangen,
als sie Avaric verließ.« Dann warf sie den Tagmantel in die Ecke und betastete ihre Augen.
»Ich kann nicht richtig sehen. Dieser Staub … Wenn du meine schönen Augen ruiniert hast, kleiner Satan, zermalme ich dich, noch ehe der Sonnenstern untergeht.«
Die Sonne stand sehr, sehr tief.
»Nein«, flüsterte Aeriel. Ihre Kräfte ließen nach. Das Zittern des Steins war unerträglich geworden. Sie fühlte, wie ihre Kleider zu Staub zerfielen. »Er hat dich nicht verletzt …«
Die alte Vettel schenkte ihr keine Beachtung. Sie setzte sich und holte die Granatsteine unter ihren Lidern hervor. Sie putzte sie mit ihrem zerlumpten Rocksaum.
»Sind sie verkratzt? Das werde ich ja bald sehen. Meine Herrin wird mir für die Gargoyles ein neues Paar geben. Ich habe ein neues Paar verdient.«
Ein Schatten fiel über ihre zusammengekrümmte Gestalt. Ohne Augen bemerkte sie ihn nicht. Die beiden Juwelen wurden ihr rüde entrissen. Die Alte schrie auf. Der Reiher kam durch die Tür gesegelt und landete neben Aeriel.
»Ich konnte deinen unsichtbaren Zwerg in diesem Tagmantel nicht finden«, sagte er, »deshalb brachte ich jemand anderen mit, der nach dir Ausschau hielt.«
Aeriel starrte ihn ungläubig an, dann überkam sie eine wilde Freude. Ein Schrei entschlüpfte ihren Lippen. Die Gestalt neben Dirna sah sie an, aber ihr Gesicht war hart, sehr bleich und erschöpft. Sie konnte nichts darin erkennen. Er war in das weiße Gewand Avarics gekleidet, das jedoch geflickt und staubig von der Reise war. Seine Haut war golden, sein langes, schwarzes
Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Fünf Narben liefen quer über eine Wange. Seine Augen waren blau und blickten kalt.
»Nun, Amme«, sagte Irrylath und hielt die Augen der verschrumpelten Alten in den Händen. »Nach all den Jahren hätte ich nicht erwartet, dich wieder zu sehen. Ist es dir gut ergangen? So siehst du nicht aus. Mir ist es auch nicht gut ergangen während dieser vergangenen zwei Dutzend Jahre. Zehn verbrachte ich im Palast der Weißen Hexe und weitere vierzehn als Engel der Nacht – deinetwegen.«
»Irrylath?«, flüsterte die augenlose Frau. »Irrylath!«
»Dann weißt du also, wer ich bin.«
Dirna zupfte am Saum ihres Rocks. »Mein kleiner Liebling. Mein schöner Prinz, wo bist du? Ich kann dich nicht sehen.« Ihre Hände flatterten in der Luft, aber Irrylath wich vor ihr zurück. Dirna flüsterte: »Aber du lebst, mein Prinz. Ich dachte, du wärst im Wüstensee ertrunken.«
»Du hast mich hineingestoßen.«
Dirna schrie, biss sich in die Faust. »Nein! Nein! Niemals …«
Sie schwieg plötzlich. Dann atmete sie tief ein. Ihre Stimme wurde ruhiger, einschmeichelnder.
»Du bist ins Wasser gefallen. Kannst du dich nicht daran erinnern? Ich nahm dich mit zum See, um dir den Schlammbeißer zu zeigen.« Ihre Hände krochen jetzt über den Boden; sie suchte nach ihm. »Du bist ausgeglitten. Ich wollte dich halten. Ich streckte meine Hand nach dir aus, erinnerst du dich?«
Irrylath betrachtete die Granatsteine in seiner Hand. Sein Gesicht hatte seine steinerne Kälte verloren. Als er sprach,
klang seine Stimme ruhig. »Das ist nicht die Geschichte, die du einmal diesem Mädchen erzählt hast.«
Dirna zischte: »Woher kennst du sie?«
Aeriel beobachtete die Szene, unfähig zu einer Bewegung. Irrylaths Gesicht war jetzt ganz im Schatten. Nur das Glühen des Feuers beleuchtete es geisterhaft. Aeriel hatte fast Angst vor ihm.
»Ich bin mit ihr verheiratet«, flüsterte er, »sie ist meine Frau.«
»Nein!«, schrie Dirna. »Nein, sie ist böse und durchtrieben. Sie hat dir Lügen erzählt.«
Irrylath antwortete ihr nicht. Er blickte Aeriel mit halb geöffnetem Mund an, als wollte er ihr etwas sagen, aber er schwieg. Neben ihm wimmerte Dirna.
»Gib mir meine Augen.«
Da wandte sich der junge Mann ab. »Du hast mich an die Weiße Hexe verkauft«, sagte er kaum hörbar, »für einen Schluck verfaulten Wassers.«
»Um uns alle zu retten!«, schrie Dirna. »Wir wären in der Wüste umgekommen, wenn ich dich nicht geopfert hätte. Wie grausam du geworden bist.« Die alte Vettel stöhnte, rang die Hände. »Früher warst du nie so grausam zu deiner alten Amme Dirna …«
Der Prinz starrte sie voller Ekel an. »Du hast mich aus der Umgebung jener gerissen, die mich Güte lehrten«, spie er ihr entgegen, »und mich jener einen
Weitere Kostenlose Bücher