Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
hölzernen Wanderstab verschmolzen war, um eine Zeit lang ihre lebende Galionsfigur zu sein.
»Dann kostet die königliche Prinzessin
von dem Baum – sonst wär sie verloren …«
Sie erinnerte sich an den Geschmack einer sonderbaren goldenen Frucht auf ihrer Zunge, scharf und gleichzeitig köstlich süß. Das dunkelhäutige Mädchen sang weiter:
»Also geschehen die Dinge,
von der Stadt Esternesse weitab:
Eine Zusammenkunft von Gargoyles,
ein Fest auf dem Stein,
Der Weißen Hexe Helferin
wird nicht mehr sein.«
Alle in Gargoyles verwandelten lons versammelten sich in Orm, auf dem Feststein des Hochtempels wurde ein Opfer dargebracht, und die rotäugige Dienerin der Hexe stürzte kreischend von der höchsten Klippe …
Aeriel schreckte aus ihren Erinnerungen auf, als Erin das Ende der zweiten langen Stanze erreichte – den letzten ihnen bekannten Vers –, und ihre Stimme verhallte. Sie schüttelte sich und blickte verwundert zu ihrer Freundin.
»Wo hast du dieses Lied aufgeschnappt?«, fragte sie. »Ich wusste nicht, dass es von einer Melodie untermalt wird.«
Erin lachte. »Das ganze Lager singt es. Das Werk irgendeines Barden. Freiwillige, die zu uns stoßen, trällern es beim Marschieren. Es würde mich nicht überraschen, wenn es längst in ganz Westernesse bekannt wäre.« Sie lächelte verschmitzt. »Deine Berühmtheit eilt dir voraus.«
Aeriel verzog einen Moment das Gesicht – doch ihr Verdruss über Erins scherzhafte Sticheleien währte nie lange. »Aber wie geht es weiter?«, wollte sie wissen. »Niemand weiß um das Ende. Talb, der Magier, ist überfragt. Ebenso die lons , und meine Geisterbräute haben seit Orm nicht mehr mit mir gesprochen.«
Sie blickte zu dem Gestirn aus fahlen gelben Sternen, das gemeinhin der Tanz der Jungfrauen genannt wurde. Ein elliptischer Kreis, der wie eine brennende Krone über ihren Köpfen schwebte.
»Wie soll ich das Ende der Verse in Erfahrung bringen?«, fragte sich Aeriel laut. »Wir sind bereits auf dem Weg, und ich kenne nicht einmal Ravennas Plan!«
Mit nüchterner Gelassenheit streifte Erin sanft die Hand ihrer Gefährtin. »Fasse Mut! All das, was der Reim prophezeit, ist bisher eingetreten. Der Hexe muss dies bewusst sein. Vielleicht fürchtet sie sich so sehr vor dir, dass sie sich in ihren Palast aus kaltem weißem Stein zurückgezogen hat und sich nicht zeigen will.« Das dunkelhäutige Mädchen hob die Schultern. »Zumindest ist es sinnlos, sich unnötig Sorgen zu machen. Du wirst schon bald den Rest des Reimes vernehmen, davon bin ich überzeugt.«
Ein Lächeln stahl sich auf Aeriels Züge. Erin gelang es stets, sie aufzuheitern. Doch ihre Stimmung verdunkelte sich schnell. Sie wand sich unruhig und biss sich auf die Lippe.
»Um Irrylath sorge ich mich am meisten. Er ist immer noch in ihrem Netz gefangen, und die Träume, die sie ihm schickt, sind grässlich. Ich fürchte um ihn.«
»Ich nicht«, erwiderte Erin säuerlich. »Er ist derart von seiner Armee und diesem Krieg besessen, und er verbringt mehr Zeit in der Gesellschaft von Avarclon und dieser Sabr als mit dir. Nie richtet er das Wort an dich; noch lässt er nach dir rufen. Ist er denn nicht dein Gemahl?«
»Ruhig Blut, Erin«, sagte Aeriel matt. »Dafür bleibt noch genügend Zeit, nach der Schlacht.«
Doch das dunkelhäutige Mädchen schüttelte den Kopf.
»Mir kamen die Gerüchte zu Ohren, die überall im Lager umgehen, von dem Zauberbann, mit dem die Weiße Hexe ihn an sich band«, rief sie, »dass er sich weder dir noch sonst einer Frau hingeben kann, solange die Weiße Hexe lebt. Eines lass mich dir jedoch aus Erfahrung sagen: Das allein macht keinen Mann aus, und obschon er dein Schlafgemach nicht teilt, könnte er dich berühren oder mit dir sprechen oder dich wenigstens ansehen, wenn du in seiner Nähe weilst – aber nein, es sind immerzu ›meine Truppen‹ und ›die Kampfgenossen‹ und ›Mein Streitross ruft!‹ Sabr, diese hinterlistige Banditin, ist in ihn vernarrt.«
Aeriel versteifte. »Sie ist seine Cousine.«
»So wie du. Und wer von euch beiden ist seine Gemahlin?«
Aeriel spürte, wie sich der Knoten unter ihrem Brustbein verklumpte. Jäh packte sie eine Handvoll staubtrockenen Sand, als wollte sie Erin bewerfen. Die nahe stehenden Zelte seufzten im Wind. Aeriel öffnete die Faust und ließ den Sand durch die Finger rieseln. »Ich möchte nicht darüber reden.«
»Nein, das willst du nie«, fauchte Erin. Sie ließ den Blick über das Lager
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