Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
Arm.
»Ich werde ein Lied über dich dichten, Große Zauberin«, rief er, während seine Tante ihn entschlossen fortzog. Allein Collum blieb zurück und trat beklommen von einem Bein aufs andere.
»Möge alles Glück der Welt dich ereilen, Zauberin«, murmelte er schließlich.
»Und dich, Collum«, sagte Aeriel.
»Wenn du scheitern solltest …«, begann er, stockte dann, bevor es aus ihm heraussprudelte. »Wenn du scheitern solltest, Zauberin, sind wir alle verloren. Keine Ravenna mehr, die uns jetzt retten könnte.«
Unvermittelt wirbelte Collum herum und folgte den anderen schnellen Schrittes. Aeriel beobachtete, wie sie zu einer nahe gelegenen, niedrigen Felszunge eilten, die aus den Dünen ragte. Bei dem Gedanken an Collums wahre Worte wurde Aeriel einen Moment das Herz schwer. Alle Verantwortung lag nun auf ihren
Schultern. Und der Perle und dem Schwert und dem Reim. Aeriel erhob sich und klopfte den Sand von den Knien. Der Reiher kehrte an ihre Seite zurück und schüttelte den roten Staub aus seinem Gefieder. Als die drei Zwerge die Felsformation erreichten, winkten sie ein letztes Mal. Aeriel hob zum Abschied die Hand, bevor ihre Gefährten aus ihrem Blickfeld schwanden.
Sie löste die Augen von der Felszunge und legte eine Hand an die dunkle Kristallkuppel der Stadt. Zitternd schlang sie die Arme um den Körper. Sie fühlte sich im kühlen Wind plötzlich allein, trotz des Reihers. Mit den Fingern strich sie abwesend durch das flaumige Gefieder, das den harten, kleinen Schädel des weißen Vogels überzog. Gleichmütig duldete der Reiher ihre Liebkosung.
»Weißt du um die Bedeutung des Reimes?«, fragte sie.
»Ich übermittle lediglich die Botschaften meiner Herrin«, erwiderte der Vogel. »Mir obliegt nicht die Aufgabe, sie zu interpretieren. «
Seufzend beobachtete Aeriel einen kleinen, bernsteinfarbenen Skorpion, der über den Sand huschte. Der Reiher stürzte sich herab und pickte nach ihm. »Horch!«, bemerkte er durch einen Schnabel voll Sand. »Dein Schatten nähert sich.«
Aeriel runzelte verständnislos die Stirn. Ravennas Worte schossen ihr durch den Kopf, und sie fingerte einen Moment an dem Schwertknauf, doch sie warf keinen Schatten, schon seit Orm nicht mehr. Kein Schatten folgte ihr, bei welchem Licht auch immer. Mit einem enttäuschten Stöhnen glitt ihr Blick über den fernen Horizont. Der See der Hexe lag dort. Sie wusste es. Das dunstige Licht der Perle schärfte ihre Sinne.
Da bewegte sich etwas zwischen den düsteren Tälern der Dünen, etwas so Dunkles wie ein Schatten, schwarz wie die Nacht. Aeriel bemerkte eine Gestalt, die über die Sandwogen auf sie zumarschierte. Selbst aus dieser Entfernung und im Sternenlicht erkannte Aeriel sie sofort: Es war diejenige, die ihr seit den Ausläufern der Wüste wie ein zweites Ich auf Schritt und Tritt gefolgt war, die sie gemieden hatte und vor der sie aus Verzweiflung geflohen war, denn sich umzudrehen und ihrer Verfolgerin zu trotzen, hätte ihr mit unerträglicher Härte die eigene Identität und jegliche Erinnerung ins Gedächtnis gerufen, die die Nadel bannte. Doch Aeriel verspürte keinerlei Angst, als sich die dunkle Gestalt näherte.
»Du hast mich nun also endlich gefunden«, sagte sie. »Wie schön.«
»Du hast mich hübsch an der Nase herumgeführt«, fauchte die andere. »Als ich kein Licht hatte, um dir in die Höhlen zu folgen, gab ich dich verloren, bis der Reiher mich fand.«
Aeriel sah die Person an, die vor ihr stehen blieb. Erin war so hochgewachsen wie sie selbst. Das dunkelhäutige Mädchen trug einen blauen Überwurf, ärmellos, mit weiten, luftigen Armlöchern. Mit einem Wanderstock in Händen hätte Aeriel sie fast für eine der Ma’a-mbai gehalten. Barfuß und sandig sah die dunkelhäutige Inselbewohnerin ausgezehrt aus; ihre Haut schimmerte wie immer, schwarz wie der sternenlose Himmel. Erin warf dem weißen Vogel einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Er hat mich bloß bis zu der Stelle geführt, an der ich das Leuchtfeuer der Kuppelstadt erblickte, bevor er mich schmählich im Stich ließ.«
Der Reiher plusterte sich auf. »Und warum sollte ich mehr tun?«, empörte er sich. »Du bist ein anspruchsvoller Schatten.«
Da er seinen Skorpion im Sand verloren hatte, stolzierte er hochmütig von dannen.
»Geht es dir gut?«, fragte Aeriel.
Erin streckte die Hand nach ihr aus, als wollte sie sich vergewissern, dass die andere kein Trugbild war. Dann nickte sie. »Und du? Du siehst irgendwie sonderbar aus …
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