Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
Sie protestierte: »Es dauert Jahre, einen Engel der Nacht zu erschaffen!«
Oriencor seufzte. »Vielleicht, wenn man es anständig macht. Doch in letzter Zeit brannte ich vor Ungeduld. Irrylath, wenn du dich erinnerst, nahm ich als Sechsjährigen auf. Ich gönnte ihm nur zehn Jahre Sterblichkeit, bevor ich ihn mit Flügeln bestückte.«
Aeriel riss die Augen auf. Sie hatte Irrylath gerettet, bevor Oriencor ihn zu einem vollwertigen Ikarus formen konnte, doch was sollte die Hexe abgehalten haben, ein weiteres Kind zu stehlen
und umgehend in einen ihrer grässlichen »Söhne« zu verwandeln? Als sie in das Gedächtnis des Palastes eintauchte, ließ die Perle Bilder, klar und deutlich, vor Aeriels innerem Auge erscheinen: Die Lorelei, die einen neuen Satz Schwingen in Kindergröße anfertigte und ein kleines, frisches Herz mit Blei überzog. Mit eisernem Gesichtsausdruck nickte die Weiße Hexe.
»Irrylaths Ersatz«, sagte sie. »Mein neuer ›Sohn‹ ist nie zuvor geflogen, aber es ist allerhöchste Zeit. Bislang hatten die Streitkräfte deines Gemahls viel zu leichtes Spiel.«
Leises Grauen erfasste Aeriel. Sie starrte auf die Wand vor ihr. Oriencors Handfläche schwebte genüsslich über der durchsichtigen Oberfläche. Ein hauchdünner Riss zog sich durch das Kristall, so unscheinbar, dass Aeriel ihn ohne die Hilfe der Perle niemals entdeckt hätte. Sie vernahm ein Rascheln, erhaschte eine Bewegung durch den Stein. Als Oriencor schließlich ihre Hand auf den Spalt legte, glitt er geschmeidig auseinander und offenbarte eine schmale Öffnung. Nur ein Kind passte hindurch. Die Weiße Hexe lächelte.
»Die Zeit ist gekommen, dass Irrylath seinem Engel der Nacht entgegentritt.«
Ein Geschöpf in Gestalt eines Kindes stand in dem Hohlraum jenseits der Tür: die Karikatur eines menschlichen Wesens, dessen totenbleiche Haut sich über eingefallenem Fleisch spannte. Ein Dutzend schwarzer Flügel verhüllten seine Schultern. Obschon die Hexe Aeriel immer noch fest umklammert hielt, wich sie erschrocken zurück. Nichts an diesem Ding zeugte von Schönheit, im Gegensatz zu Irrylath. Aeriel erinnerte sich genau daran, wie sie dem unfertigen Ikarus zum ersten Mal begegnet
war. Im Gegenteil, diese Kreatur hier glich einem Automat. Sie sprach kein Wort, bewegte sich plump und ungelenk, als sei sie aus Wachs: ein echter Engel der Nacht. Die Hexe hatte seine Seele bereits getrunken.
»Ein Golam«, flüsterte Aeriel und zitterte unkontrolliert vor Kälte. »Eine Puppe, der Leben eingehaucht wurde!«
»Ja.«
Das weißgesichtige Geschöpf richtete seine farblosen Augen auf sie und zischte. Entzückt lachte Oriencor.
»Nun denn, mein Küken. Bereit zu fliegen? Einer deiner Genossen ist tot«, erklärte sie ihm. »Weshalb mir der Rest von euch noch mehr am Herzen liegt. Zum Fenster mit dir. Husch, husch! Deine Pflicht ruft.«
Das bleiche Wesen trat von einem Bein aufs andere, als sei es nervös, und beäugte Aeriel unverwandt. Es schien nur widerstrebend vortreten zu wollen. Als sich Oriencors dolchartige Nägel in Aeriels Fleisch gruben, sank sie in die Knie, ihr ganzer Körper war wie betäubt. Sie verzog schmerzhaft das Gesicht und unterdrückte einen gellenden Schrei.
»Oh, kümmere dich nicht um sie, du dummes Ding!«, fauchte die Weiße Hexe. »Sie kann dir mit diesen Augen nichts anhaben. «
Der kleine Engel der Nacht huschte an ihnen vorbei, wobei er Aeriel gurgelnd anwinselte. Er hüpfte zum Fenster und sprang auf das feuchte, angetaute Fensterbrett, wo er sich zusammenkauerte und wie ein junger Vogel die Flügel behutsam spreizte und ausschüttelte. Oriencor stieß Aeriel jäh von sich, und sie taumelte und fiel der Länge nach zu Boden. Der kleine Ikarus
pfiff jämmerlich. Mit raschem Schritt eilte die Weiße Hexe zum Fenstersims und durchbohrte das weißgesichtige Wesen mit ihrem Blick.
»Flieg«, befahl sie, »und bring mir Irrylath!«
Gelangweilt, geradezu lieblos küsste sie ihre zischende, fauchende Kreatur und schubste sie vom Fensterbrett. Der Engel der Nacht breitete seine Schwingen aus, die wild zu schlagen begannen, pflügte dann kreisend durch den Himmel und flog so geschmeidig, als habe er in seinem bisherigen Leben nichts anderes getan. Aeriel mühte sich vergebens, wieder auf die Beine zu kommen. Auf ihrer Stirn flackerte die Perle, sie war beinahe verbraucht. Steh auf , murmelte sie ihr eindringlich zu. Steh auf, oder du schaffst es nie mehr wieder! Mit allerletzter Kraft rappelte sich Aeriel
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