Gefangene Seele
wahrscheinlich nicht, dass er ihr Gesicht beobachtete.
Und was für ein Gesicht. Es war ausdrucksstark. Man sah ihr die Erschöpfung und die Strapazen der letzten Wochen noch an, und dennoch war es so schön. Ihre Haare waren verwuschelt und rahmten ihr Gesicht ein, und ihre Sachen waren zerknittert, als habe sie in ihnen geschlafen, was ja auch stimmte.
Und so drehte Luke den Spieß einfach um und beobachtete sie, ohne dass sie es wahrnahm.
Jades Rücken begann zu schmerzen. Es war das erste Anzeichen, dass sie zu lange über dem Block gebeugt gearbeitet hatte, dazu noch ohne ausreichendes Licht. Sie sah sich die Zeichnung ein letztes Mal an. Dann schraffierte sie die Täler zwischen Lukes Bauchmuskeln, um sie dunkler zu machen. Schließlich streckte sie sich und unterdrückte ein Seufzen.
“Bist du fertig?”
Sie erschrak. Luke schlief nicht mehr.
“Wie lange bist du schon wach?”
“Lange genug.”
Luke setzte sich auf, dann streckte er die Arme über seinen Kopf und gähnte.
Noch einmal verstärkte sich das seltsame Gefühl in Jades Magen, das spürte sie. Plötzlich war es zu warm und stickig im Zimmer.
“Darf ich mal sehen?”, fragte Luke.
Jade klappte den Block zu und warf ihn und den Stift auf die andere Seite des Bettes. “Es ist noch nicht fertig”, sagte sie und verzog das Gesicht, als sie ihre schwarzen Finger betrachtete. “Kohle. Ich muss mir die Hände waschen.” Sie stand langsam auf und machte einen Bogen um Luke.
Er hörte dem Rauschen des Wassers im Badezimmer zu und wartete darauf, dass Jade hinauskam. Die Stille, als der Hahn abgedreht war, war lang und unerträglich, aber sie kam nicht zurück ins Schlafzimmer.
“Jade?”
“Was?”, rief sie.
“Möchtest du, dass ich gehe?”
Die Tür flog auf. Sie stand im Türrahmen und hielt sich beide Hände vor den Bauch.
“Nein.”
“Dann geh wieder ins Bett. Du musst doch müde sein.”
Doch sie rührte sich nicht.
Er stand auf. “Stimmt was nicht? Geht es dir nicht gut? Ich kann Sam Bescheid sagen. Er sagte, ich soll ihn rufen, falls …”
“Nein, ich bin nicht krank.”
Er setzte sich wieder hin, um ihr Zeit zu geben. Luke versuchte zu lächeln.
“Gut, wenn du nicht müde bist, sollen wir uns dann unterhalten? Oder hast du Hunger? Ich wette, du hast noch nichts gegessen.”
“Ich habe keinen Hunger.”
Er seufzte frustriert. “Mir fällt nichts mehr ein. Du musst mir schon einen Hinweis geben, was los ist mit dir.”
Sie ging einen Schritt in das Zimmer und hielt zufällig dort an, wo ein Strahl Mondlicht durch die Vorhänge fiel. Luke stockte der Atem.
“Weißt du eigentlich, wie schön du bist?”
“Wir sehen uns selbst nie so, wie uns die anderen sehen”, sagte sie und begann zu zittern. Genau das wollte sie hören, aber Jade hatte Angst vor dem, wohin es führen könnte.
“Ich hatte Angst um dich, als du heute das Haus verlassen hast.”
“Ich weiß”, sagte Luke. “Aber ich war jahrelang bei der Polizei, bevor ich meine eigene Firma gegründet habe. Ich wusste, was auf mich zukam.”
“Aber das heißt nicht, dass wir uns keine Sorgen gemacht haben.”
“Ich weiß. Es tut mir leid, dass du dich um meinetwillen gefürchtet hast. Willst du dich nicht setzen?”, fragte Luke.
Sie durchquerte eilig das Zimmer und schlüpfte ins Bett.
Aber jetzt war sie ihm näher als zuvor. Sie konnte die Wärme seines Körpers spüren. Das war immer etwas, was schlimme Erinnerungen in ihr wachrief. Aber dieses Mal war es anders. Sie war nervös, aber auf eine andere Art und Weise.
“Fühlst du dich nicht wohl mit mir?”, fragte Luke.
“Nein.”
Es war nur ein kleines Wörtchen, aber Luke war es, als habe ihn jemand in den Magen getreten. “Verzeihung. Soll ich vielleicht mein Hemd anziehen?”
“Nein. Lass es aus”, sagte sie und war dankbar, dass er in dem Halbdunkel nicht sehen konnte, dass sie rot geworden war. “Was ich meinte war … es ist einfach zu heiß, um in den Sachen zu schlafen.”
Luke grinste. “Dasselbe machst du doch auch.”
Mit offenem Mund sah sie ungläubig an sich herab. Dann sah sie ihm geradewegs in die Augen.
“Du machst mich wahnsinnig”, murmelte sie.
Luke hörte zu grinsen auf. “Ja? Na, willkommen im Club.”
“Was meinst du damit?”, fragte sie.
“Nichts”, sagte Luke. Jetzt stand er auf, ging unbeholfen ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich.
Jade schossen die Tränen in die Augen. Sie hatte ihn wütend gemacht, aber sie wusste nicht,
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