Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
jemandem. Die war auf der Flucht, wenn man’s so sehen will. Und wir wußten, daß sie im Gateway wahrscheinlich in Sicherheit sein würde, obwohl ich sie und das Kleine wirklich nicht gern in die Kälte rausgeschickt hab. Es sollte brutal kalt werden in der Nacht, minus fünfzig mit dem Windabkühlungsfaktor hatten sie angesagt, drum hab ich auch gleich Muriel angerufen, um ihr zu sagen, daß jemand vorbeikäme. Und am nächsten Tag hat Muriel sie an Julia verwiesen, und wir haben wahrscheinlich alle geglaubt, Julia würde ein Auge auf sie haben und hätte die Situation im Griff. Als könnte man so eine Situation im Griff haben. Aber wir haben später drüber geredet, als sie wieder fort war. Es war nicht so, daß uns die Geschichte nicht interessiert hätte.
Sie war nur Haut und Knochen wie diese unterernährten New Yorker Models. Und ich sage Ihnen noch was: Sie werden das jetzt vielleicht komisch finden, aber ich hatte gleich den Eindruck, daß sie eine hübsche Frau war. Das hätten Sie nicht erwartet, daß so was von mir kommt, hm? Aber sie war wirklich hübsch. Das konnte man trotz der dunklen Brille und der dicken Lippe sehen – eine kleine Schönheit. Schöne Haare hatte sie, rot, lebendig, nicht dieses Karottenrot, wie man’s manchmal sieht, sondern so ein Rotgold – wie poliertes Kirschholz. Ja, genau, wie Kirschholz. Schönes, dickes Haar, das ihr rund ums Gesicht gefallen ist. Ich muß zugeben, daß ich eine Schwäche für Rothaarige hab. Meine Frau hatte früher auch rote Haare, schöne Haare. Sie hat sie immer hochgesteckt getragen. Aber das ist jetzt vorbei. Wissen Sie, es war so, wie wenn – ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Man sieht in einem Bildband eine antike Statue, die nicht mehr heil ist. Es fehlt vielleicht ein Arm, oder ein Teil vom Gesicht ist abgebröckelt. Aber trotzdem weiß man, daß die Statue früher einmal vollkommen war und was ganz Besonderes. Verstehen Sie, was ich sagen will? So ein Gefühl kriegte man, wenn man sie anschaute, daß da was Besonderes kaputt gemacht worden war. Das Kind hatte das gleiche Haar. Das hat man an den Löckchen gesehen, die unter der Mütze rausgeschaut haben, und später sowieso. Haben Sie sie schon gesehen?
Haben Sie Mary schon kennengelernt? Also, ich hab sie ein paarmal gesehen seit – na ja, Sie wissen schon. Und ich kann Ihnen sagen, sie schaut nicht mehr so aus wie im letzten Winter, als sie zu uns gekommen ist. Aber glauben Sie mir, und schreiben Sie’s, wenn Sie Ihren Artikel bringen: Mary Amesbury war eine Schönheit.
Nur gebracht hat’s ihr nichts. Außer bei Jack. Aber das ist eine andere Geschichte.
Sie müssen mit Jack reden. Wenn Sie’s richtig anfangen, wird er Ihnen vielleicht was erzählen. Er ist verschlossen, wissen Sie.
Aber Willis, der redet bestimmt mit Ihnen. Der redet mit jedem. Damit will ich nur sagen, daß Willis sich gern reden hört, und er war ja dabei. Er haust in einem rosaroten Wohnwagen, den Sie vielleicht schon gesehen haben. Drüben, am südlichen Ortsrand, mit seiner Frau Jeannine und seinen Kindern. Ach, und weil wir gerade von Jeannine sprechen, da kann ich Ihnen was erzählen. Aber nur im Vertrauen. Sagen Sie’s ja nicht weiter und schreiben Sie’s bloß nicht in Ihren Bericht, aber da es Ihnen wahrscheinlich sowieso zu Ohren kommen wird, kann ich’s Ihnen auch gleich erzählen. Also von Willis heißt es – ich mein, genau wie die Leute hier, wenn sie von Julia reden, immer sagen, daß Billy erfroren ist, bevor er ertrunken ist, so sagen sie von Willis immer, daß seine Frau, Jeannine, drei – na ja, also, daß sie drei Brüste hat. Es heißt, daß die dritte, nur so ein kleines Ding, oben auf der rechten Seite sitzt, in der Mulde, wo Schulter und Schlüsselbein zusammenstoßen. Ich hab’s natürlich nie selbst gesehen und ich kenn auch niemanden, der es gesehen hat, aber ich glaub schon, daß es wahr ist, auch wenn ich Willis niemals drauf ansprechen würde. Und Jeannine ist eine Primamutter.
Das sagen alle, drum würd ich auch nie wollen, daß schlecht über sie geredet wird. Wenn Sie mich fragen, kommt das von der Inzucht, aber daß Sie mir das nicht in Ihrem Artikel schreiben. Das geht nur das Dorf was an und sonst niemanden. Hab ich Ihnen nur so nebenbei erzählt.
Also, Sie wollten was über das Dorf wissen. Da sind Sie bei mir an der richtigen Adresse. Ich bin hier so was wie der Dorfhistoriker, könnte man vielleicht sagen, aber das wissen Sie sicher schon. Deswegen sind Sie
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