Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
wohl hier.
Ich bin hier geboren und hab mein ganzes Leben hier verbracht, genau wie Julia und Jack und Willis. Muriel ist aus Bangor hergekommen, als sie geheiratet hat. Ihr Mann hat sie verlassen – aber das ist eine andere Geschichte –, und sie ist geblieben. Wir sind ein Fischerdorf, das haben Sie ja schon gesehen, unser Hauptgeschäft sind Hummer, Muscheln und Krebse. Das Handelszentrum im Dorf ist die Genossenschaft drüben auf dem Kai. Die Ware geht dann nach Boston runter. Ein Stück weiter landeinwärts gibt’s ein paar Heidelbeerplantagen. Die liefern im August überallhin. Aber unsere Existenz ist der Hummerfang. Ich bin da eine Ausnahme, ich hab den Laden von meinem Vater übernommen, da hat’s nie eine Frage gegeben, was ich mal anfangen würde. Aber Willis und Jack, die sind Hummerfischer. Und Julias Billy war auch einer von ihnen, bevor er umgekommen ist. Das sind Leute von besonderem Schlag, wissen Sie, mit dem Normalbürger nicht zu vergleichen. Wenn man’s nett ausdrücken will, könnte man sagen, sie haben ihren eigenen Kopf. Aber sie können schon eine verflucht sture Bande sein. Die Hummerfischerei, wissen Sie, die liegt den Leuten hier im Blut, das ist eine Sache, die vom Vater an den Sohn weitergegeben wird, so ähnlich wie’s im Bergbau ist, weil es ja die einzige Möglichkeit ist, sich hier sein Leben zu verdienen. Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Es läßt sich gut leben hier, wenn’s einem paßt. Ich kann mir nicht vorstellen, da zu leben, wo Sie herkommen. Aber das Leben hier macht einen hart. Man muß hart werden, sonst geht man unter.
Die Hummerfischer, oder jedenfalls die meisten von ihnen, holen ihre Boote kurz vor Weihnachten aus dem Wasser und setzen ihre Körbe erst wieder gegen Ende März oder so. Willis zum Beispiel fährt im Januar und Februar für eine Transportfirma. Im März fängt er dann an, sein Boot und seine Ausrüstung auf Vordermann zu bringen. Ein paar von den Männern holen ihre Boote allerdings erst im Januar raus. Jack zum Beispiel. Na ja, der hat’s zu Hause auch ziemlich schwer. Seine Frau, Rebecca, die war richtig trübsinnig, ganz schlimm. Das geht im Winter hier manchen Frauen so. Es ist ja auch zum trübsinnig werden, wenn das Wasser tagein, tagaus nur grau ist, da fangen sie dann an, ein bißchen schwermütig zu werden, heulen immer nur oder schneiden sich die Haare ab – bis der Frühling kommt, dann geht’s ihnen wieder gut. Aber Rebecca war Sommers wie Winters schwermütig, das war schon hart für Jack, obwohl – vielleicht war er einfach nicht der richtige Mann für sie. Jack ist ein verschlossener Mensch, sehr still. Vielleicht auch ein bißchen enttäuscht vom Leben, wenn Sie mich fragen. Er hat zwei Jahre lang an der Universität von Maine studiert, vor mehr als zwanzig Jahren war das, er hatte ein Stipendium bekommen, aber dann hat sich sein Vater auf einem Schrimpkutter beide Arme gebrochen, und der Familie ist das Geld ausgegangen, da ist Jack nach Hause gekommen, um sich um seinen Vater zu kümmern. Er hat das Boot von seinem Vater übernommen und Rebecca geheiratet. Mit den Kindern hat er sein Bestes getan. Er hat zwei, neunzehn und fünfzehn, glaub ich, anständige Kinder. Der Junge studiert jetzt in Boston. An der Northeastern Universität, glaub ich. Jack bezahlt ihm das Studium.
Kurz und gut, Jack fährt immer raus, wenn’s mal taut oder nicht zu stark bläst. Die restliche Zeit pflegt er drüben im Fischhaus auf dem Kap seine Körbe und so. Da hat er auch sein Boot liegen – die Rebecca Strout . Sie nennen sie nach ihren Frauen. Na ja, jedenfalls an diesem Teil der Küste. Woanders nennen sie sie nach ihren Söhnen. Da hat sie übrigens gelebt, drüben am Kap. Mary Amesbury, meine ich. Haben Sie das Cottage gesehen?
Wissen Sie, wenn die Leute rausfahren, ob im Sommer oder im Winter, ist das Wasser so kalt, daß ein Mensch darin keine zehn Minuten überleben kann. So ist Billy Strout umgekommen – Julias Mann, Jacks Vetter. Hat sich mit dem Fuß in einem Gewirr von Leinen verfangen und ist über Bord gestürzt. So was kommt leider vor. Es war im November, wenn ich mich recht erinnere. Er ist erfroren, ehe er überhaupt ertrinken konnte. Die Ärzte drüben in Machias, die können das feststellen, wenn sie den Leichnam bekommen. Manchmal wird die Leiche ja nie gefunden, aber Billy ist drüben bei Swale’s Island angespült worden. Wir wußten natürlich schon an dem Tag Bescheid, an dem es passiert ist. Ich kann Ihnen
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