Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
wegkommen. Julia verdient ganz schön damit, daß sie von Juni bis September vermietet. Von dem Geld lebt sie dann den Rest des Jahres.
Wenn Sie die Reiseprospekte lesen, werden Sie sehen, daß die Abschnitte über St. Hilaire die kürzesten sind. Und besonders hervorgehoben wird überhaupt nichts. Hier gibt’s nichts, was der Rede wert wäre.
Tja, da haben Sie unsere ganze Geschichte. Ich wüßte nicht, was ich Ihnen sonst noch erzählen sollte. Außer daß es hier, soweit ich mich zurückerinnern kann, nie einen Mord gegeben hat. Gewalt gibt’s natürlich immer mal, Schlägereien und so, und ich mußte auch schon mal zwei Hummerfischer festnehmen, die sich ein paar Wilderer vorgeknöpft hatten. Dennis Kidder haben sie beide Hände gebrochen. Und Phil Gideon hat letztes Jahr eine Kugel ins Knie gekriegt. Tja, wenn man sich an fremden Körben vergreift, riskiert man sein Leben.
Ach, und noch was. Ich hab eben von »Mord« gesprochen, aber Sie werden hier im Dorfnicht viele Leute finden, die dieses Wort gebrauchen, wenn sie von den Ereignissen im letzten Winter sprechen. Sie sagen alles mögliche, »diese schlimme Geschichte oben in Julias Ferienhaus« oder »diese schreckliche Sache mit der Amesbury« oder auch »die Schießerei drüben auf dem Kap«, aber das Wort »Mord« will kaum einer aussprechen. Und mir geht’s, ehrlich gesagt, nicht anders.
Mary Amesbury
Ich fuhr auf der Küstenstraße aus dem Dorf hinaus. Ich fuhr nur vierzig, aber kein Kilometer vom Laden entfernt geriet der Wagen plötzlich ins Schlingern und stellte sich einen Moment quer. Mit einem Gefühl, als sackte die Erde unter mir weg, griff ich blitzschnell nach hinten, um die Tragetasche festzuhalten. Ich zog den Wagen wieder gerade, schaltete in den ersten Gang hinunter und kroch noch langsamer als zuvor durch eine beinahe totenstille Landschaft. Scheinwerferlichter, die durch die Dunkelheit auf mich zukamen, erschienen mir wie große Schiffe auf hoher See, und im Vorüberfahren scherte ich so weit aus, daß ich den Wagen beinahe in die hohen Schneewehen am Straßenrand lenkte. Seit meiner Kindheit hatte ich nicht mehr so viel Schnee gesehen. Schon vor dem Sturm des heutigen Tages mußte er gut einen Meter hoch gelegen haben. Es überraschte mich, daß so nahe der Küste so viel Schnee fallen konnte. Die schwerbeladenen Zweige von Kiefern hingen bis zum Boden hinunter.
Ich hielt Ausschau nach der Abzweigung zur Route One. Hin und wieder konnte ich hinter oder zwischen den Kiefern ein Lichtpünktchen oder einen Schimmer Helligkeit erkennen, einziger Hinweis darauf, daß das Land bewohnt war. Ich sehnte mich in diesem Moment beinahe nach der Wärme des Ladens, den hellen Lichtern, dem Gefühl von Sicherheit, das alltägliche Gegenstände vermittelten – eine Zeitung, eine Tasse Kaffee, eine Dose Suppe –, und verstand, warum der Mann mit dem Schnauzer beim Zeitschriftenständer verweilt hatte, warum die Frau im braungrauen Parka ihre Zeitung am Tresen gelesen hatte. Ich fixierte die schwachen Lichtpünktchen mit dem gleichen angestrengten Blick, mit dem ein im Nebel orientierungsloser Seemann vielleicht die Küste sucht.
An einer Kurve stand das Stoppschild, und eine etwas breitere Straße bog nach Machias ab. Ich bog weisungsgemäß rechts ab und fuhr weiter, viel zu lange, wie mir schien – etwa zwanzig Minuten. Überzeugt, einen Fehler gemacht zu haben, vielleicht eine Abzweigung oder gar das Motel selbst übersehen zu haben, wendete ich schließlich den Wagen und fuhr den Weg, den ich gekommen war, wieder zurück. Ich war nervös. Caroline hatte zu weinen begonnen. Ich steigerte das Tempo wieder auf vierzig, dann auf fünfzig und fünfundfünfzig. Ich hing über dem Steuer, als könnte ich durch meine gebückte Haltung bewirken, daß der Wagen fest auf der Fahrbahn blieb. Aber als ich das Dorf wieder erreichte – zu bald, wie mir schien, von den Lichtern überrascht wurde –, erkannte ich, daß ich nirgends einen Fehler gemacht hatte.
Ich hielt den Wagen an und blieb einen Moment sitzen, nahm meine verkrampften Hände vom Lenkrad und überlegte, ob ich noch einmal in den Laden hineingehen und mir genauere Anweisungen holen sollte. Ich stellte mir vor, wie die Leute im Laden mich ansehen würden, wenn ich hereinkäme, und beschloß, einfach zu wenden und mein Glück noch einmal zu versuchen. Wieder kroch ich auf der Küstenstraße bis zur Abzweigung, bog nach rechts ab und musterte auf der Fahrt jedes Haus, an dem ich
Weitere Kostenlose Bücher