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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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wenn ich jetzt Caroline hole und mit ihr zum Wagen laufe und davonfahre, wird er uns wieder finden.
    Ich dachte: Wenn ich zu dem blauen Haus hinauflaufe und die Polizei hole, werden die Beamten nur feststellen, daß hier ein Mann versucht, seine Frau und sein Kind nach Hause zurückzuholen.
    Ich dachte: Wenn ich ihnen sage, daß er mich vergewaltigt hat, werden sie die Augen verschließen. Vergewaltigung in der Ehe, das gibt es nicht, werden sie sich sagen.
    Ich ging zur Besteckschublade und zog sie so leise wie möglich auf. Ich nahm ein langes Küchenmesser mit einem schwarzen Holzgriff heraus. Ich hielt es in meiner Hand und prüfte sein Gewicht. Ich hielt die Hand mit dem Messer auf dem Rücken und ging auf Harrold zu. Er lag immer noch schnarchend auf der Couch. Ich zog das Messer hinter meinem Rücken hervor und hielt es keine zwei Schritte von seiner Brust entfernt vor mich hin. Ich sagte zu mir, tu’s, tu’s einfach, aber meine Hand rührte sich nicht. Statt dessen ertappte ich mich bei der Frage, ob das Messer überhaupt den Pullover und das Hemd durchdringen würde. Und wenn ja, ob ich die Kraft besitzen würde zuzustoßen, sobald es seine Haut berührte.
    Ich sah zu dem Messer in meiner Hand hinunter. Der Anblick erschien mir absurd.
    Letztlich war es weniger eine Frage der Kraft als des Muts. Ich hatte nicht den Mut, mit dem Messer zuzustoßen. Ja, wenn er erwacht wäre und versucht hätte, sich auf mich zu stürzen, hätte ich es vielleicht geschafft, ihm das Messer in den Leib zu stoßen, aber so nicht. Ich konnte es nicht tun. Ich senkte das Messer. Ich schlich zurück in die Küche und legte das Messer leise in die Schublade.
    Ich stützte den Kopf in die Hände. Aber was dann?
    Ich hob den Kopf mit einem Ruck.
    Ich wußte es.
    In den Stiefeln war das Vorwärtskommen auf den glattgeschliffenen, runden Steinen am Kiesstrand mühsam und beschwerlich. Mehrmals wäre ich beinahe gefallen und konnte mich nur im letzten Moment noch fangen. Ich hatte meinen Mantel an, aber die kalte Luft brannte wie Trockeneis auf meinem Gesicht und meinen Händen. Doch unter dem Mantel war mir warm; ich versuchte zu laufen, und das hielt mich warm.
    Ich rannte von der Südseite der Landzunge zum Sandstrand hinüber. Die Absätze meiner Stiefel sanken im Sand ein und blieben immer wieder stecken. Es war Ebbe, ich konnte es riechen, auch wenn es so finster war, daß ich die Wasserlinie nicht erkennen konnte. Eine Wolkenbank hatte sich vor den Mond geschoben. Ich verließ mich beim Gehen mehr auf meinen Instinkt als auf meine Augen. Ich hielt mich leicht vorgebeugt, die Knie etwas abgeknickt, die Arme vor mir ausgestreckt, um nicht unversehens mit einem Boot, einem Felsbrocken oder einem großen Klotz Treibholz zusammenzustoßen.
    Der Sand wurde weicher, feuchter, glitschiger. Er zog schmatzend an meinen Füßen, und bei jedem Schritt gluckste es unter mir. Ich vermutete, daß ich zu nah ans Wasser geraten war, der festere Boden sich rechts von mir befand. Ich hatte den Eindruck, überhaupt nicht vorwärtszukommen. Es war, als versuchte ich, wie ich das aus Alpträumen der Kindheit kannte, durch einen Sirupsumpf zu laufen. Ich zog einen Fuß aus dem schmatzenden Schlamm und dachte an Caroline. Was, wenn sie aufwachte und zu weinen anfing? Würde das nicht Harrold wecken? Und wenn sie ihn weckte, würde er sie dann nicht vielleicht einfach packen und mit ihr davonfahren? Noch verzweifelter kämpfte ich mich weiter vorwärts.
    Ich wandte mich nach rechts, in die Richtung, wo ich den festeren Untergrund vermutete, und erwartete, daß nun das Gelände allmählich zu den Dünen hin ansteigen würde. Aber rundherum war alles platt und eben. Verwirrt hielt ich an. Ich holte tief Luft und versuchte, ruhig zu überlegen. Sehen konnte ich nichts, nicht einmal einen Schatten, der das Fischhaus hätte sein können. Über mir zog die Wolkenbank gemächlich am Mond vorüber. Wenn die Wolken aufrissen, dachte ich, würde mir das Mondlicht vielleicht den Weg zeigen.
    Ich wagte einen Schritt vorwärts, dann noch einen. Irgendwie schien ich mich völlig verkalkuliert zu haben, der Boden wurde weicher statt fester. Ich kehrte um und versuchte es in einer anderen Richtung. Das schien ein klein wenig besser, aber mein innerer Kompaß spielte verrückt. Das war nun ganz sicher die falsche Richtung. Wieder machte ich kehrt, ging, wie ich meinte, zu der Stelle zurück, wo ich mit meinem Manöver begonnen hatte. Genau in diesem Augenblick kam der

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