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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Mund einer Frau kommen konnten, hätte ich nicht sagen können, ob sie von Mann oder Frau hervorgebracht wurden. Immer tiefer und immer lauter wurden die Schreie, schienen die Frau hin und her zu werfen. Die Schwestern im Kreißsaal waren still. Selbst die Frauen in den anderen Kabinen, die ihren eigenen Schmerz herausgestöhnt hatten, verstummten aus Furcht und Scheu vor diesen Lauten. Der Arzt, der selbst geängstigt schien, versuchte, seine Patientin zur Besinnung zu bringen, indem er mehrmals in scharfem, zornigem Ton ihren Namen rief, aber es war klar, daß seine Anwesenheit ihr nichts bedeutete. Mir wurde eiskalt bei diesem Heulen. Ich wollte mit jemandem über die Frau sprechen, aber niemand war bereit, mit mir über sie zu reden, als wäre diese heulende Klage zu persönlich, um mit einer Fremden besprochen zu werden.
    Dabei entsprang sie dem Schmerz, reinem Schmerz, nur Schmerz allein. Und sie war, dachte ich damals, ein nützliches Maß für allen zukünftigen Schmerz, eine Norm, an der ich stets meinen eigenen Schmerz würde messen können, auch wenn ich wußte, daß ich niemals fähig wäre, meinem Schmerz mit der Ungehemmtheit jener Frau Ausdruck zu geben. Ich bekam die Frau nie zu sehen, aber ich wußte, daß ich ihr Gesicht, so wie ich es mir vorgestellt hatte, niemals vergessen würde.
    Ich stampfte im Schnee kräftig mit den Füßen auf und zog meinen Mantel fest um mich. Es ist möglich, daß ich am Rand der Stille das unaufhörliche Branden des Ozeans an einer felsigen Küste hörte. Ich sah zum Motel hinüber und stellte mir mein Kind vor, das hinter der getäfelten Wand schlief.
    Es würde mich interessieren – es stört Sie doch nicht, daß ich das frage? –, ob Sie zu den Journalisten gehören, die Zitate ändern. In den ersten Zeiten haben Harrold und ich endlos über diese Frage diskutiert. Ich hing mehr am Wort als er. Ich war der Meinung, man müsse das, was jemand gesagt hatte, im genauen Wortlaut wiedergeben, selbst wenn die Worte unbeholfen oder unpassend gesetzt waren, keinen Rhythmus hatten oder nicht genau das ausdrückten, was, wie man wußte, der Betreffende tatsächlich sagen wollte. Harrold hingegen glaubte an die schriftstellerische Freiheit. Er pflegte die Herzstücke aus einem Protokoll oder einer Akte herauszusuchen, diese dann beizubehalten, und nach eigenem Gutdünken auszuschmücken, so daß seine Zitate, und somit seine Berichte, sich durch Verständnisreichtum, Witz, Schwung, ja sogar Brillanz auszeichneten. Ja, vor allem durch eine bestechende Brillanz. Und nur er – und vielleicht ich – und ganz gewiß sein Gesprächspartner wußten, daß das, was da Schwarz auf Weiß stand, so nie gesagt worden war.
    Ich habe mich oft gewundert, daß er nie ertappt wurde. Im Gegenteil, je mehr Freiheit er sich herausnahm, desto mehr Erfolg hatte er. Der großzügige Umgang mit dem Material erlaubte ihm, in einem Stil und mit einer Pointiertheit zu schreiben, um die andere Autoren ihn beneideten. Ich vermute, seine Gesprächspartner waren im ersten Moment vielleicht verblüfft, sich so falsch zitiert zu sehen, fanden aber nach dem ersten Schrecken Gefallen an den reizvollen, weit interessanteren Tönen, die Harrold ihnen in den Mund gelegt hatte.
    Bei mir, der akribischen Protokollführerin, beschwerten sich ironischerweise weit mehr Leute als bei Harrold, weil ihre Ausführungen trocken zu lesen waren, selten witzig und, wenn auch vielleicht von Bedeutung, kaum je fesselnd waren. Sie hätten die Richtigkeit der Zitate am liebsten bestritten. Aber ich hatte meine Notizen. Ich konnte ihnen sagen, daß dies oder jenes genau so und nicht anders formuliert worden war, daß dies oder jenes Wort in der Tat gefallen war. Aber ich wußte genau, wogegen ihre Einwände sich richteten. Das, was da geschrieben stand, entsprach überhaupt nicht dem, was sie hatten sagen wollen.
    Dies also war die Frage, über die Harrold und ich uns die Köpfe heiß redeten: ging bei seiner Art zu schreiben die Wahrheit verloren? Oder bewahrte er sie gerade durch die schriftstellerische Freiheit, die er sich erlaubte, besser als ich?
    Als Sie hier waren, fragten Sie nach meinem Werdegang. Ich weiß nicht recht, was ich Ihnen dazu sagen soll, was hier von Belang ist.
    Meine Mutter war die erste ihrer Familie, die den Sprung ins Vorortleben und in den Mittelstand schaffte. Rückblickend habe ich allerdings den Eindruck, daß das mehr mit geographischer als mit wirtschaftlicher Lage zu tun hatte. Meine Mutter war

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