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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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darüber eine große weiße Wolljacke, die als Bademantel herhalten mußte. Als ich mich an den Tisch setzte, um mit einem Handtuch mein Haar zu frottieren, konnte ich hören, daß draußen wieder Wind aufgekommen war. Ich hörte den Schlag der Wellen gegen die Felsen, das leise Klirren nicht ganz festsitzender Fensterscheiben. Ja, dachte ich, ein Radio wäre schön, ein bißchen Musik im Hintergrund. Soviel Stille hatte ich nie erlebt, und ich war mir nicht sicher, ob sie für das Kind gut war.
    Die Hausarbeit oder das Bier oder, was wahrscheinlicher war, das lange heiße Bad hatte mich endlich schläfrig gemacht. Ich wußte nicht, ob es neun oder zehn Uhr war oder noch später, aber die Zeit war mir sowieso ziemlich unwichtig.
    Als mein Haar fast trocken war, hängte ich die Handtücher im Badezimmer auf und machte unten alle Lichter aus. Im Dunkeln tastete ich mich zur Treppe und ging langsam in den ersten Stock hinauf. Im oberen Schlafzimmer konnte ich Carolines leise regelmäßige Atemzüge hören. Ich wartete, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, die nur von einem Schimmer Mondlicht erhellt war, und trat ans Kinderbett. Undeutlich konnte ich die dunkle Form von Carolines Kopf auf dem Laken erkennen, den kompakten kleinen Körper unter den Dekken.
    Ich schlug mein Bett auf und zog Socken und Wolljacke aus. Die Baumwolltücher waren kühl, und ich fröstelte ein wenig, als ich mich ausstreckte. Ich glaubte, ich würde sofort einschlafen. Ich war jetzt wirklich müde. Caroline würde mich früh wecken, das wußte ich, und gestillt werden wollen.
    Aber ich schlief nicht ein. Ich schlief überhaupt nicht. Vielmehr sah ich, auf dem Rücken im Bett liegend, ein klares, scharf gezeichnetes Bild des Orts, an dem ich nun angekommen war – ein leuchtendes Bild meiner selbst auf einem hohen Bett, ganz oben in einem Haus auf einem Hügel über dem Atlantik. Ich war an den Rand des Kontinents gefahren. Von hier aus führte der Weg nicht weiter. Das leichte Frösteln von zuvor drang tiefer.
    Es war töricht gewesen, mir einzubilden, ich wäre in Sicherheit. Es war lächerlich gewesen, Böden zu schrubben und Tische zu scheuern, als könnte ich damit die Vergangenheit wegwaschen. Er würde mir das nicht durchgehen lassen. Er würde nicht zulassen, daß ich ihm sein Kind wegnahm. Er würde sich von mir nicht überlisten lassen. Er würde mich finden. Dessen war ich sicher. Vielleicht saß er gerade in diesem Moment in seinem Wagen, schon auf dem Weg zu mir.
    In der Dunkelheit drückte ich mir das Kopfkissen aufs Gesicht – denn ich wußte noch etwas: Diesmal würde er mich umbringen, wenn er mich fand.

8. Juni 1967 bis 3. Dezember 1970

Mary Amesbury
    Wir lernten uns an meinem ersten Arbeitstag kennen. Ich bog um eine Ecke – er war in seinem Büro. Ich sah nur ihn, obwohl ich eigentlich gekommen war, um mit dem Chefredakteur zu sprechen. Harrold stand über einen Schreibtisch gebeugt und sah sich ein Layout an. Er richtete sich auf und sah mich an, als ich auf den Schreibtisch zuging. Ich hatte eine Bluse an. Sie war neu, cremefarben. Dazu eine Halskette – waren es Glasperlen? Unwillkürlich hob ich die Hand und berührte die Perlen. Ich hatte schon vergessen, warum ich hergekommen war, und suchte nach einer passenden Frage. Es war ja mein erster Arbeitstag, da hatte ich ein ganzes Arsenal von Fragen zur Auswahl. Der Chefredakteur machte uns miteinander bekannt. Wir schwiegen beide, und ich vermute, er fühlte sich verpflichtet, dieses Schweigen zu überbrücken. Sie kommt aus Chicago, direkt von der Uni. Er fliegt morgen nach Israel. Kann sein, daß ich dann doch endlich eine Frage stellte: Und was tun Sie morgen in Israel? Kann sein, daß er antwortete: Ich seh erst mal, wo ich eine anständige Tasse Kaffee bekomme.
    Er war groß, breit, massig, würde ich sagen. Ich habe ihn immer so gesehen, obwohl er weiß Gott kein Gramm Fett zuviel am Körper hatte. Und auch sein Haar war »massig« – so seh ich es jedenfalls: massig, wild, dunkel, leicht gelockt im Nacken. Aber am lebhaftesten erinnere ich mich an seine Augen, schwarze, tiefliegende Augen unter einer hohen Stirn. Sie waren dunkel und undurchdringlich, und als er mich ansah, fühlte ich mich schon verloren. Ich glaube, er hat das sofort gesehen, und es befriedigte ihn, reizte ihn vielleicht sogar. Er schob sein Jackett zurück und stemmte die Hände in die Hüften. Seine Krawatte war rot, am Hals gelockert. Sein Hemd war hellblau. Das

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