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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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ich Ihnen sonst noch von ihm erzählen?
    Er hatte die Gewohnheit, sich mit den Fingern durch die Haare zu fahren, kämmte sie selten. Er frühstückte nie, es war schwer, ihn wach zu bekommen, wenn er schlief, und er bestellte zum Mittagessen fast immer Eier. Er tippte mit zwei Fingern, rasend schnell – eine beeindruckende Demonstration von Kompensierung, wie ich fand.
    Er war süchtig auf Nachrichten. Er las jeden Tag vier Zeitungen und verpaßte nie eine Nachrichtensendung im Fernsehen, wenn er zu Hause war. Wenn er las, lief immer das Radio, entweder hatte er Musik an oder Nachrichten. Er erklärte, das wäre eine Folge davon, daß er so lang allein gelebt hatte. Er könne Stille nicht ertragen.
    Er mochte moderne Popmusik, Dylan und die Stones und einen Gitarristen namens John Fahey. Die spielte er laut und oft. Aber so sehr er diese Musik mochte, für Drogen hatte er nichts übrig. Sie führten bei ihm nur zu Kontrollverlust und Übelkeit, sagte er. Er saß lieber in Bars herum und trank – als käme er aus einer anderen Zeit. Am liebsten waren ihm die Bars ausländischer Städte. Die Frauen dort faszinierten ihn.
    Er war viel unterwegs, und später reiste auch ich manchmal. Wenn er zu Hause war, pflegten wir erst in eine Bar zu gehen, dann ins Bett und danach kochte ich. Wir blieben fast immer bis zwei oder drei Uhr morgens auf. Wir hatten nie Besuch und wir gingen nie zu Partys. Dieses Alleinsein war wesentlich. Meine Abhängigkeit von ihm mußte allumfassend sein.
    Wenn ich mir das heute vorstelle – es war wirklich die totale Isolation. Die Welt um uns herum war in schreiendem Aufruhr, das wissen Sie. Es gab Unruhen und es gab Krieg. Wir wußten natürlich davon, schrieben Berichte für die Zeitschrift darüber. Oft war Harrold Zeuge der Ereignisse, manchmal auch ich. Aber seltsamerweise isolierte uns das Schreiben und Berichten nur noch mehr. Wir schrieben ja nur Wörter wie die, die man in der Zeitung las. Was immer auch geschah, wir standen darüber oder daneben. Wenn man nur zur Stelle war, um die Tatsachen zu berichten, brauchte man nicht zu fühlen. Ja, wir hielten Distanziertheit vom Weltgeschehen für wesentlich. In der Redaktion konnten wir wohlinformiert über eine Protestaktion oder einen Mord sprechen, weil wir die Fakten hatten, aber das waren nicht die Themen, die am Abend in unseren leeren Zimmern zählten.
    Wir waren nicht wie andere Paare. Wie soll ich Ihnen das begreiflich machen? In der Redaktion war immer die Spannung zwischen uns, und es ist möglich, daß die anderen sie spürten, aber nach außen ging jeder von uns seiner Wege. Man konnte beobachten, daß ich zu anderen herzlicher war als zu ihm. Wir gingen niemals zusammen Mittagessen, erlaubten uns keine Berührungen, zeigten nie diesen öffentlichen Besitzerstolz, in dem jungverliebte Paare manchmal schwelgen. Was zwischen uns war und was wir taten, war unser Geheimnis, und selbst nachdem wir geheiratet hatten, trennte uns dieses Bewußtsein, vor den anderen ein Geheimnis zu haben, von unserer Umwelt.
    Die Folge davon war, daß ich später dachte: Es gibt niemanden, keinen Menschen auf der ganzen Welt, dem ich das erzählen kann.
    Manchmal – nein, oft sogar – bewegte mich die Frage: Warum hat Harrold gerade mich gewählt? Ab und zu nämlich hatte ich in seinen Sachen blaßblaue Luftpostbriefe von Frauen aus Madrid und Berlin gefunden.
    Mein Haar habe ihn verführt, pflegte er im Scherz zu sagen. Es sei wie eine Flamme, die ihn angezogen habe wie einen Falter. Nein, in Wirklichkeit, fügte er dann vielleicht später hinzu, während er mir mit ausgestreckten Armen entgegenkam und mich an die Wand drängte, in Wirklichkeit seien es meine Füße gewesen. Er möge kleine Füße, und meine seien weiß und hübsch geformt, ob mir das schon mal aufgefallen sei? Noch später, ernster, erklärte er, wie wir zusammenarbeiteten, das habe ihn bestochen: Wir seien geistig auf einer Wellenlänge, wenn es ums Schreiben gehe.
    Aber einmal, als wir spätabends in einem Taxi saßen und auf einer regennassen Straße, in der sich die Lichter spiegelten, von der Redaktion nach Hause fuhren, antwortete er auf meine Frage, warum, in leichtem Ton, die Hand auf meinem Schenkel, den Beginn eines Lächelns um den Mund: »Du hast mir’s erlaubt.«
    Ich schrieb meiner Mutter. Ich schrieb, daß ich einen Mann kennengelernt hatte und ihn liebte. Ich schrieb, er sei klug und bei der Zeitschrift hochangesehen. Ich schrieb, er liebe mich auch. Er sei groß

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