Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
schnitt mir Harrolds Vater das Wort ab.
»Was machen Ihre Eltern?« sagte er mit krächzender Stimme und dann hustete er.
Da war mir klar, daß er genau gehört hatte, was sein Sohn gesagt hatte, aber nicht bereit war, ihm eine Bestätigung, geschweige denn seinen Segen zu geben.
Harrold lief aus dem Zimmer auf die Veranda hinaus. Ich hörte seine Schritte auf der Treppe, sah ihn durch das Fenster zum Strand hinuntergehen.
Ich beantwortete die Frage seines Vaters nach meinen Eltern, genauer gesagt, nach meiner Mutter. Ich sah ihm an, daß er enttäuscht war. Trotz seiner zur Schau getragenen Gleichgültigkeit hatte er wohl gehofft, sein Sohn würde eine gute Partie machen, wenigstens in dieser Hinsicht seinen Wünschen entsprechen. Er bedeutete der Haushälterin mit einer Geste, sein Glas aufzufüllen. Ich fragte mich, ob er den ganzen Tag so dasaß und Scotch trank, ohne sich in diesem Haus, das wie eine Totengruft war, groß von der Stelle zu rühren.
Ich entschuldigte mich. Ich sagte, ich würde gleich zurück sein. Ich lief Harrold nach zum Strand, sah ihn in seinen Schuhen durch den Sand stapfen. Er hatte die Hände in den Hosentaschen, sein Jackett und seine Krawatte flatterten hinter ihm im Wind. Wir hatten uns feingemacht für diesen Besuch bei seinem Vater. Ich zog meine Schuhe aus und rannte den Strand hinunter, um mit ihm zu reden, aber er wollte meine Gesellschaft nicht, sagte, er wolle allein sein. Ich wollte ihm das nicht abnehmen und rannte im Sand neben ihm her. Der Wind riß an seinem Haar, seine Augen waren von der Sonne geblendet zusammengekniffen.
»Wir hätten nicht herkommen sollen«, sagte er. So sei es immer schon gewesen. Sein Vater sei Alkoholiker.
Als wäre das für alles eine Entschuldigung – die eisige Kälte, die Verachtung, den Spott.
»Was war mit deiner Mutter?« fragte ich.
Zuerst antwortete er mir nicht. Er wandte sich einfach ab, ging zu einer Düne und setzte sich nieder. Er sah beinahe komisch aus, wie er da in seinem guten Anzug im Sand hockte, und er tat mir leid. Sein Vater war ein häßlicher Mann, aber das konnte ich nicht sagen.
Ich setzte mich neben Harrold nieder.
Er sei damals zehn Jahre alt gewesen, sagte er plötzlich, nachdem eine Weile verstrichen war. Seine Mutter hatte Krebs gehabt. Brustkrebs. Er hatte nicht gewußt, daß sie bald sterben würde. Er hatte natürlich die Operationen und die Krankenhausaufenthalte mitbekommen, aber ihm hatte seine Mutter gesagt, es ginge ihr langsam wieder besser, und er hatte ihr geglaubt. Hatte ihr glauben müssen. Er war ja erst zehn Jahre alt gewesen.
Und an jenem Tag, den er so klar im Gedächtnis hatte, war er in die Küche gekommen, um sich ein Glas Wasser zu holen. Es war ein heißer Nachmittag gewesen, und die Küche hatte eine Schwingtür gehabt. Er hatte sie, ohne sich etwas dabei zu denken, mit Schwung aufgestoßen – »Wie Jungs das eben tun«, sagte er –, und sie hatte seinen Vater genau in den Rücken getroffen. Erst seinen Vater und dann auch noch die Schwester seiner Mutter, die ins Haus gekommen war, um bei der Pflege zu helfen. Die beiden hatten einander gerade umarmt – und bestimmt nicht, um beieinander Trost zu suchen, sagte Harrold. Es sei wahrscheinlich nur ein Grapschen gewesen, ein plumper Annäherungsversuch seines Vaters, letztlich ohne Bedeutung, aber der kleine Junge hatte es nicht so gesehen. Er war in einem schwierigen Alter gewesen, alt genug, um einiges zu verstehen, aber nicht alles. Er war aus der Küche gerannt und in die Dünen hinuntergelaufen, dahin, wo wir jetzt waren. Er habe geweint, sagte er. Er habe um seine Mutter und seinen Vater geweint und wegen der Schmach. Er hatte die heißen, tief empfundenen Tränen eines Zehnjährigen vergossen.
Und danach, sagte er, hatte er das einzig wirklich Schlimme in seiner Kindheit getan.
Er hatte, wohl in der Hoffnung, daß sie alles wiedergutmachen würde, seiner Mutter davon erzählt, genauer gesagt, begonnen, ihr davon zu erzählen, bis er plötzlich gemerkt hatte, daß er das nicht tun durfte. Aber da hatte sie schon alles erraten, sie hatte es ihm am Gesicht abgelesen, schon zuviel gehört, bevor er sich fassen und das Gesagte zurücknehmen konnte.
Nach diesem Tag hatte seine Mutter nie wieder mit seinem Vater gesprochen. Wochen später war sie gestorben, ohne ein Wort für ihren Mann, und der Vater hatte dem Sohn das nie verziehen.
»Was ich getan habe, war das Schlimmere«, sagte Harrold und sah mich an. »Ihr das zu sagen,
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