Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
behauptete, er wäre krank. Ich sagte, ein Taxifahrer am Flughafen hätte seine Autotür genau in dem Moment geöffnet, als ich mich gebückt hatte, und dabei meine Wange getroffen.
Hat man erst einmal für ihn gelogen, dann ist man zur Komplizin geworden und ist verloren.
Ich möchte Ihnen etwas erzählen, was ich in St. Hilaire beobachtet habe. Nein, es war in Machias, als ich im Supermarkt beim Einkaufen war. Caroline hatte ich in ihrer Tragetasche vorn im Einkaufswagen. Ich suchte mir gerade in der Obst- und Gemüseabteilung ein paar Orangen aus, als ich hinter mir gedämpften Tumult hörte. Ich drehte mich um und sah eine Frau, die schnell davonging. Ihr folgte ein kleiner Junge von vielleicht sechs oder sieben Jahren, der weinte, während er versuchte, sie einzuholen, und nach ihrer Hand grapschte. Sie war klein und dicklich. Sie hatte einen kurzen karierten Mantel an und trug dazu ein Tuch mit Blumenmuster. Im Gehen fuhr sie den Kleinen an: »Du hast doch das Geld verloren! Jammer mir jetzt nicht was vor. Diese Woche gibt’s keine Süßigkeiten. Ich geb dir einen Dollar und sag dir noch, du sollst gut drauf aufpassen, und prompt verlierst du ihn.«
Sie war wütend und würdigte ihn keines Blickes. Er rannte schneller und schaffte es, ihre Hand zu fassen. Sie fuhr herum und schüttelte seine Hand ab, als hätte er sie gebissen. »Rühr mich nicht an!« schrie sie ihn an und lief weiter.
Und er lief ihr hinterher, denn er hatte ja keine andere Möglichkeit. Ich wußte genau, was er dachte. Er mußte sie zurückgewinnen. Er mußte ihre Zuneigung wiedergewinnen, sonst würde seine ganze kleine Welt in die Brüche gehen.
Er hatte eine alte wollene Winterjacke in einem verwaschenen Blau an. Von einem älteren Bruder geerbt? Sein Haar war sehr kurz geschnitten, und ihm lief die Nase. Er rannte hinter ihr her um die Ecke, und ich verlor ihn aus den Augen.
Ich erledigte meine Einkäufe, bezahlte und ging hinaus auf den Parkplatz, um die Sachen im Wagen zu verstauen. Neben meinem Auto stand ein verbeulter Kombi, hier und dort angerostet vom Salz. Der Mann, der drinnen saß, kaute auf einer Zigarette. Er hatte schütteres Haar, das fettig wirkte, und dunkle Koteletten, die fast bis zum Unterkiefer reichten. Er hatte im Wagen gewartet, während die Frau und der Junge im Supermarkt eingekauft hatten. Er saß am Lenkrad und hörte sich eine Geschichte an, die seine Frau ihm aufgebracht erzählte, mit vielen wütenden Gesten, von denen einige dem Jungen galten, der hinten saß. Der Junge hockte seitlich auf der Ladefläche, die Kapuze seiner Jacke tief ins Gesicht gezogen. Mit gesenktem Kopf weinte er schniefend vor sich hin.
Der Vater brüllte: »Verdammte Scheiße! Wie kommst du überhaupt dazu, dem Jungen Geld zu geben? Bist du blöd? Geschieht dir ganz recht, daß er’s verloren hat.«
Dann schob er mit einem wütenden Schnauben den Zündschlüssel ins Schloß.
Die Frau wandte sich ab, drehte den Kopf zufällig in meine Richtung. Sie sah mich nicht an. Sie starrte die Backsteinmauer an. Aber ich konnte alles in ihrem Gesicht lesen: Diese Mischung aus Wut und Resignation, das Verlangen, um sich zu schlagen, und den Wunsch, in Frieden gelassen zu werden. Sie war erschöpft, völlig ausgepowert.
Sie haßte den Mann neben sich, aber sie würde es niemals schaffen, ihm das zu sagen. Statt dessen würde sie ihren Zorn an dem kleinen Jungen auslassen.
Auch ich glaubte, genau wie diese Frau, daß ich niemals frei sein würde – daß Freiheit der ferne Punkt am Ende der Gleise wäre, unerreichbar.
Am vierten Tag erschien Harrold wieder in der Redaktion und kam abends nach Hause. Ich wußte nicht, wo er gewesen war, und er sagte es mir nicht. Schon da lernte ich, vorsichtig zu sein, gewisse Fragen lieber nicht zu stellen. Er beteuerte, es würde nie wieder geschehen, und ich glaubte ihm. Er war zerknirscht, und er erklärte es – mir oder sich selbst. Allein die Vorstellung, ich könnte mit einem anderen zusammen sein, mache ihn wahnsinnig, sagte er. Und er habe getrunken gehabt. Er würde versuchen weniger zu trinken, aber er bestritt, Alkoholiker zu sein. Er sei doch nicht wie sein Vater, sagte er. Nicht wie sein Vater.
Und ich dürfe keinem was erzählen. Ich müsse ihm versprechen, keiner Menschenseele etwas zu sagen.
Ich machte keine Reisen mehr. Ich erfand Ausreden. Ich vertrüge Auto- und Flugreisen nicht, sagte ich. Natürlich konnte ich auch schreiben, wenn ich keine Reisen mehr machte, aber meiner
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