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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Haus oder auch die Bäume außen herum entzünden. Die Dorfbewohner jedoch schienen sich darüber keine Gedanken zu machen. Vielleicht hatte es soviele Jahre lang keinen Zwischenfall gegeben, daß sie der Gefahr gegenüber leichtsinnig geworden waren, vielleicht aber hatten sie auch Vorsichtsmaßnahmen getroffen, von denen ich nichts wußte. Möglich, daß eiskalte Bäume sich nicht so leicht entzünden, ich weiß es nicht.
    Es hatte etwas Tröstliches, in Mantel und Schal vermummt in der Dunkelheit des äußeren Rings zu stehen und unbeachtete Zuschauerin zu sein, auch wenn ab und zu ein wissender Blick mich streifte. Wahrscheinlich hatten die meisten schon von der Frau mit dem kleinen Kind gehört, die ins Dorf gezogen war. Vielleicht hielten mich manche für eine Verwandte, die hierher gekommen war, um Weihnachten mit ihrer Familie in St. Hilaire zu verbringen. Die meisten Männer und Frauen hatten dicke Anoraks oder Parkas an, trugen warme Schals und Wollmützen. Kleine Dampfwölkchen vom warmen Atem in kalter Luft stiegen allenthalben in die eisige Nacht hinauf. Von den Männern nahmen einige hin und wieder einen Schluck aus der Flasche, die sie in einer Papiertüte versteckt bei sich hatten, und ein- oder zweimal wehte mir der süße Duft von Marihuana in die Nase, wenn ich auch niemanden mit einem Joint sah.
    »Wir schichten da immer das wurmstichige Holz von den Reusen auf.«
    Erstaunt drehte ich mich nach der Stimme hinter mir um. Willis hielt in der einen Hand eine Bierdose, die andere steckte in der Tasche seiner Jeansjacke. Sein Schnauzer war weiß bereift, und als das Feuer sein Gesicht erleuchtete, sah ich, daß seine Augen stark blutunterlaufen waren.
    »Für das Feuer«, fügte er erklärend hinzu. »Wir schichten da die alten Hummerkörbe auf und so. Das brennt ganz schön, was?«
    Er musterte mich mit taxierendem Blick, während er das sagte.
    » Wo ist denn Ihre Familie?« fragte ich rasch.
    »Jeannine ist mit den Jungs in der Kirche, wo es den Cider und die Plätzchen gibt. Ich hab Sie von drüben gesehen.«
    Er trank einen letzten Schluck Bier, ließ die Dose zu Boden fallen und trat sie mit dem Fuß zusammen.
    »Also, was halten Sie von unserem Feuer? Toll, oder?«
    »Ja, es ist wirklich beeindruckend«, sagte ich.
    »Das gibt’s bei uns bestimmt schon seit fünfzig Jahren. Schon mein Vater hat immer davon erzählt. Soll ich Ihnen ein Bier holen?«
    »Nein, danke«, antwortete ich.
    »Möchten Sie dann vielleicht was rauchen? Ich könnte uns ein paar Joints besorgen.«
    Ich hörte das »uns«, und es gefiel mir nicht. Auch das Bild, das mir in den Sinn kam, gefiel mir nicht: Willis und ich, wie wir im Schatten der Kirche Marihuana rauchten.
    »Ich würde gerne Ihre Jungen kennenlernen«, sagte ich.
    Er schien verwirrt.
    »Ja, klar. Die kommen bestimmt gleich raus«, sagte er vage.
    Der Gesang begann wie von selbst, ohne daß ein sichtbares Signal gegeben worden wäre. Ein, zwei Takte lang war nur eine einzelne Männerstimme zu hören, dann fiel ein halbes Dutzend weiterer Stimmen ein und schließlich, als die Leute aufmerksam wurden und die Gespräche verstummten, der ganze Chor der Versammelten. »Stille Nacht« endete im einträchtigen Gesang des ganzen Dorfes, bei dem die tiefen Bässe der Männer mit dem hohen, trillernden Vibrato der älteren Frauen kontrastierten.
    Als nächstes stimmten sie eine munterere Weise an – »O Tannenbaum« oder »Kommet ihr Hirten« –, und ich beobachtete die singenden Männer und Frauen. Ich sang selbst auch mit. Das verhinderte jedes weitere Gespräch mit Willis, der immer noch neben mir stand – schwankend vom Alkohol oder einfach zapplig wie immer, das konnte ich nicht erkennen. Mitten in diesem Lied, oder vielleicht auch einem anderen sah ich zwei oder drei Reihen vor mir plötzlich Jack. Er stand mit dem Rücken zu mir, drehte sich aber etwas zur Seite, als er sich einem jungen Mädchen zuneigte, das neben ihm stand, so daß ich sein Gesicht sehen konnte, als er mit ihr sprach. Sie hatte ihren Cider auf ihre Handschuhe verschüttet. Jack zog ihr die Handschuhe von den Händen und steckte sie in seine Taschen, zog dann seine eigenen Handschuhe aus und gab sie ihr. Er hielt ihren Pappbecher mit dem heißen Cider, während sie seine Handschuhe überzog. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, sie hatte mir den Rücken zugekehrt, aber ihr Haar fiel mir auf, das lang und dicht unter ihrer Mütze herabfiel. Es hatte die gleiche Farbe wie die ihres

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