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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Vaters.
    Möglich, daß in der Menge ein leichtes Gedränge entstand oder jemand vor mir sich bewegte und mir die Sicht versperrte, jedenfalls reckte ich wohl den Hals, um die Szene mit Jack und seiner Tochter weiter zu verfolgen, plötzlich nämlich merkte ich, daß Willis mich anstarrte. Er warf einen forschenden Blick auf mein Gesicht und sah dann zu der Stelle hin, der meine Aufmerksamkeit galt. Danach drehte er sich wieder zu mir um. Ich fing seinen Blick auf und wandte mich ab. Ich glaube, ich war verlegen. Ich hatte seinen Gesichtsausdruck nicht lesen können, doch sein Blick hatte klarer und schärfer gewirkt als zuvor.
    »Ich hol mir einen Becher Cider«, sagte ich hastig und entfernte mich von ihm.
    In der Kirche war es warm und hell. Die Leute legten Schals, Mützen und Handschuhe ab, sobald sie hereinkamen, und die, die eine Brille trugen, mußten sie abnehmen, um die beschlagenen Gläser zu wischen. Den Cider gebe es im Gemeindesaal, sagte man mir, einem Raum neben dem Sanktuarium. Ich folgte den anderen zu einer langen Tafel, auf der ein rotes Tischtuch lag. Darauf standen schwarze gußeiserne Krüge mit heißem Cider, Platten mit Plätzchen und Kuchen, Kerzen, die mit Stechpalmen umkränzt waren. Der würzige Duft des Ciders, der den ganzen Raum füllte, war köstlich. Von einem grünen Samtvorhang auf einer Bühne fielen Girlanden aus Silberpapier herab, und in einer Ecke stand ein hoher Weihnachtsbaum.
    Caroline wachte auf, sah mich an und rieb sich die Augen. Ich dachte flüchtig daran, daß ich sie bald würde stillen müssen, und überlegte, ob ich nicht einfach direkt nach Hause fahren sollte. Mir war heiß unter meinem Schal. Der Cider roch gut, aber ich fühlte mich zu unbehaglich, um länger zu bleiben. Ich fürchtete, Caroline könnte zu schwitzen anfangen, und sie nur wegen eines Bechers Cider aus dem Tragetuch nehmen und ihr den Schneeanzug ausziehen zu müssen, war mir zu umständlich.
    Die Kälte draußen war beinahe eine Erleichterung. Ich blieb auf der Treppe stehen und beobachtete das Treiben vor mir. Vom Meer her war ein scharfer Wind aufgekommen, der das Feuer anfachte. Es gewann an Helligkeit und spie noch höhere Funkenfontänen zum Himmel hinauf. Eine Frau kam aus der Kirche und blieb neben mir auf der Treppe stehen, während sie in ihre Handschuhe schlüpfte und ihre Mütze tiefer zog. Unten sangen sie jetzt »O du Fröhliche«, und ich hatte den Eindruck, daß sowohl der Gesang als auch das Feuer nahe daran waren, außer Rand und Band zu geraten.
    Die Frau neben mir schien ähnlich zu denken.
    »Ich weiß, daß wir das jedes Jahr veranstalten«, sagte sie kopfschüttelnd, »aber ich hab erst heute morgen zu Everett gesagt, daß es eines Tages eine Riesenkatastrophe geben wird.«
    Sie nickte mir kurz zu, zog noch einmal an ihren Handschuhen und ging die Treppe hinunter in die Menge.
    Ich wäre vielleicht ganz gern länger geblieben, aber ich hatte nichts dagegen, jetzt nach Hause zu fahren, Caroline zu stillen und dann in mein hohes weißes Bett zu klettern. Ich war müde, und ich wußte, daß Caroline, die immer noch zahnte, früh aufwachen würde. Langsam stieg ich die Treppe hinunter, kam mir, mit Caroline unter meinem Mantel beinahe wieder schwanger und unförmig vor, und wollte gerade zu meinem Wagen gehen, als ich plötzlich einen lauten Ausruf hörte, dann so etwas wie ein wütendes Knurren. Der Gesang brach ab, aber der Kreis löste sich nicht auf, die Menschen blieben rund um das Feuer stehen. Ich ging näher, neugierig, was der Grund für das plötzliche Schweigen war. Der Wind fegte eisig über die Wiese und berührte brennend meine Wangen. Ich zog den Schal über mein Gesicht und hielt Caroline fest unter meinem Mantel.
    Als ich die Menge erreichte, stellte ich mich auf die Zehenspitzen, um etwas sehen zu können. Ganz in der Nähe des Feuers fand eine Prügelei statt. Eine wogende, schwankende Gruppe älterer Jungen schob sich bald dicht an das Feuer heran, bald wieder weg von ihm. Das Antikriegstransparent lag auf dem Boden. Männer sprangen vor, um in die Prügelei einzugreifen oder sie zu beenden, und die Leute, die nur zusahen, ohne sich zu beteiligen, drängten nach rückwärts, um Platz zu machen, und drückten die Menschenmenge noch enger zusammen. Die Leute ganz außen wiederum drängten vorwärts und schienen der Mitte zuzustreben.
    Wir hörten Schreie und Stöhnen, sahen wild um sich schlagende Arme, zurückgeworfene Köpfe. Mitten im Getümmel sah ich

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