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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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denn für einen Sinn, wenn sie nicht geladen wäre? Außerdem ist sowieso nie jemand außer mir auf dem Boot.«
    »Ich hab auch ein paar Bücher gefunden«, sagte ich. »Liest du, wenn du hier draußen bist?«
    Einen Moment schien er verlegen.
    »Wenn ich Zeit hab«, sagte er dann und lachte. »Na ja, manchmal nehm ich mir einfach die Zeit. Es ist so schön friedlich hier draußen.«
    Ich nahm ihm Caroline ab und setzte mich. Ich knöpfte meinen Mantel auf und schob meinen Pulli hoch. Sofort spürte ich die Kälte auf meiner Haut. Er schüttelte das Badetuch aus und legte es mir über die Schulter, um Carolines Gesicht vor der Kälte zu schützen. Dann ging er nach vorn in die Kabine und kam mit der Whiskyflasche zurück. Er setzte sich und begann, das Picknick auszupacken. Hin und wieder, so wie in diesem Moment, schloß ich eine Sekunde lang die Augen und stellte mir vor, wie mein Leben hätte sein können, wenn ich vor Jahren nicht Harrold kennengelernt hätte, sondern Jack. Aber immer vertrieb ich diese Bilder gleich wieder. Das war trügerischer Boden – gefährlich wie Treibeis.
    Er hatte Schinkenbrote mitgebracht und eine Thermosflasche Kaffee. Mehr war es nicht, aber es war eine Menge, und ich hatte einen Bärenhunger. Lieber Gott, Sie können sich nicht vorstellen, wie gut ein Schinkenbrot schmeckt, wenn man richtigen Hunger hat. Er hatte das Brot geröstet, und obwohl die Sandwiches kalt waren, schmeckten sie köstlich. Er goß einen Riesenschuß Whisky in den Kaffee. Das schien hier Brauch zu sein, den Kaffee oder Tee mit Alkohol zu trinken. Er goß mir den Kaffee in den Becher, der zur Thermosflasche gehörte, er selbst trank aus der Flasche. Wir saßen in strahlender Sonne, die ihr Bestes tat, uns zu wärmen. Ihr Licht lag funkelnd auf dem weißen Strand und dem Wasser. Er saß mir gegenüber, unsere Knie berührten sich. Ich aß mit einer Hand und hielt mit der anderen Caroline. Das Boot schaukelte sachte. Ich betrachtete sein wettergegerbtes Gesicht, die vielen Fältchen, die grauen Augen. Unter seinem Pullover sah der Kragen eines Flanellhemds hervor. Wir waren ganz für uns, umgeben von Wasser und Sand und Himmel.
    »Das ist …«, begann ich, konnte aber nicht weitersprechen.
    Er sah mich an.
    Er zog das Badetuch auf meiner Schulter zurecht.
    Er nickte und sah weg.
    Möglich, daß wir miteinander gesprochen haben, während wir da saßen und die Brote aßen. Ja, wahrscheinlich, denn ich weiß manches, was ich sonst jetzt nicht wissen würde. Morgens sprachen wir eher wenig, und er war von Natur aus schweigsam, nicht daran gewöhnt, seine Gedanken und Gefühle mitzuteilen – vielleicht war er auch nur außer Übung. In dieser Hinsicht waren wir einander ähnlich, denn auch ich hatte gelernt, im Gespräch vorsichtig zu sein. Wenn man gerade über das nicht sprechen darf, was einen ständig beschäftigt – es sich nicht leisten kann, auch nur ein Wort entschlüpfen zu lassen, weil man fürchten muß, dann die ganze Geschichte preiszugeben –, entwickelt man eine Zurückhaltung, die anderen vielleicht ganz natürlich erscheint, eine Gewohnheit, eher zuzuhören als selbst zu erzählen. Aber an diesem Tag hatte er, glaube ich, von seiner Familie gesprochen. Nicht von seiner Frau und seinen Kindern, aber von seinem Vater und seinem Großvater. Sie waren Hummerfischer gewesen wie er, jedenfalls sein Vater, sagte er. Sein Großvater hatte Kabeljau gefischt und war auf Hummer umgestiegen, als nach dem Zweiten Weltkrieg plötzlich rege Nachfrage geherrscht hatte. Sein Großvater war tot, und sein Vater, der zwar noch lebte, konnte seinem Beruf nicht mehr nachgehen. Ich weiß nicht mehr genau, wie Jack mir den Unfall seines Vaters schilderte, aber ich begriff, daß die dadurch verursachte Arbeitsunfähigkeit für die Familie eine Katastrophe gewesen war.
    Ich hatte Jacks Vater nie kennengelernt, aber manchmal stellte ich ihn mir vor: Einen Mann wie Jack, nur älter und ein bißchen geschrumpft vielleicht, der mit seinen verkrüppelten Armen tatenlos in einem Lehnstuhl am Fenster eines kleinen Fischerhauses saß und zur Bucht hinausstarrte.
    Als wir aufgegessen hatten, meinte Jack, wir sollten zurückfahren. Er wollte mich an der Landzunge absetzen und dann zum Dorfkai hinüberfahren, um das Boot zu reinigen und die Körbe an Land zu bringen. Es sei einfacher, sie dort auszuladen, erklärte er, als sie im Dingi an Land zu befördern.
    Auf der Heimfahrt sprachen wir nichts – der Motor war einfach zu laut

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