Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
hatte nicht das Wetter Jack davon abgehalten, mit seinem Boot hinauszufahren. Ich ging schnell bis zur Spitze der Landzunge und wieder zurück. Wenn jemand mich gesehen hätte, hätte er gesagt, ich habe wütend ausgesehen. Ich sah zum Haus hinauf, aber ich wollte noch nicht wieder hineingehen. Ich bog nach Süden ab und ging das Ufer entlang in Richtung zum Dorf. Soweit wie noch nie zuvor. Das abfließende Wasser hinterließ einen breiten Streifen festen feuchten Sands. Von Zeit zu Zeit trug ein leichter Windstoß den besonderen Geruch der Ebbe herein, der sich dann in der spröden, trockenen Luft verflüchtigte. Ich lief, bis mir die Beine weh taten und mich der Rücken schmerzte von Carolines Gewicht. Aber genau das hatte ich gewollt, das wurde mir jetzt bewußt – mich ausgeben bis zur Erschöpfung.
Auf dem Rückweg ging ich langsamer. Wir waren fast zwei Stunden unterwegs, als Caroline zu weinen begann. Ich hätte sie längst stillen müssen. Ich begann wieder schneller zu gehen.
Als ich um einen Felsen herumkam, sah ich vor mir das Haus auf der kleinen Anhöhe. In der Auffahrt stand ein Wagen, den ich nicht kannte. Ein alter schwarzer Buick. Julia Strout stand auf der Treppe vor dem Haus und schien nach mir Ausschau zu halten.
Dann sah sie mich und winkte. Ich winkte zurück und eilte den Hang hinauf.
»Ich dachte mir schon, daß Sie wahrscheinlich einen Spaziergang machen«, sagte sie. »Der Kleinen geht’s gut?«
»Sie ist hungrig«, antwortete ich. »Ich muß sie stillen. Wie geht es Ihnen?«
»Gut, danke«, sagte Julia und hielt mir die Tür. Wir gingen ins Haus. Ich nahm Caroline aus dem Tragetuch und schlüpfte aus meinem Mantel. Ich setzte mich im Wohnzimmer auf die Couch und bedeutete Julia, Platz zu nehmen. Sie kam der Aufforderung nach, legte aber ihren Mantel nicht ab.
»Jack Strout hat mich heute morgen angerufen«, sagte sie und sah mich dabei aufmerksam an.
Ich bemühte mich, ein nichtssagendes Gesicht zu machen, aber ich spürte sofort, wie sich etwas in mir krampfartig zusammenzog. Ich atmete tief durch. Am liebsten hätte ich ein Fenster geöffnet.
»Er hat mir erzählt, daß die Kleine ziemlich krank war«, fuhr sie fort. »Sie hätten ihn vorgestern morgen um Hilfe gebeten, und er hätte sie dann nach Machias in die Klinik gefahren.«
Ich nickte.
»Aber jetzt geht es der Kleinen wieder gut?« fragte sie.
»Besser«, sagte ich. »Viel besser.« Mir wurde bewußt, daß ich völlig verkrampft saß und ganz flach atmete. Und ich sah, daß keine Milch mehr kam. Caroline hatte zu trinken aufgehört und hob den Kopf, um mich anzusehen. Ich bemühte mich, tief und gleichmäßig zu atmen, mich zu entspannen, damit die Milch wieder fließen würde. Bleib ganz ruhig, sagte ich mir.
»Jedenfalls«, sprach sie weiter, »hat er mich gebeten, Ihnen zu sagen, daß er heute eigentlich vorbeikommen wollte, um sich nach der Kleinen zu erkundigen und zu fragen, ob Sie etwas brauchen, aber seine Frau, Rebecca, ist in der Nacht selbst krank geworden – ein schlimmer Mageninfekt, sagte er –, und da konnte er nicht weg. Er meinte, wenn ich zufällig hier herauskäme, könnte ich ja mal nach Ihnen sehen.«
»Das war … das war sehr nett von ihm«, sagte ich schwach. »Und von Ihnen auch«, fügte ich hastig hinzu. »Sie können ihm ausrichten, daß es Caroline wieder gut geht. Und mir auch. Es geht uns beiden gut.«
Julia sah mich forschend an. Meine Stimme klang hoch und gepreßt. Ich überlegte krampfhaft, wie ich Jack über Julia eine Nachricht zukommen lassen könnte, aber ich war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Julia lehnte sich in ihren Sessel zurück und sagte, während sie ihren Mantel aufknöpfte: »Ich hatte tatsächlich vor, heute bei Ihnen vorbeizukommen. Es ist vielleicht völlig belanglos, und ich möchte Sie auf keinen Fall beunruhigen, aber ich fand, Sie sollten es wissen. Ich war heute morgen schon in aller Frühe bei Everett im Laden – ich gehe jeden Morgen rüber, um mir meine Milch und meine Zeitung zu holen –, und da sagte er, daß gestern abend ein Mann aus New York bei ihm war und nach einer Frau namens Maureen English gefragt hat.«
Möglich, daß ich blaß wurde, oder mein Gesicht sonstwie mein Erschrecken verriet, jedenfalls sagte Julia hastig: »Geht es Ihnen nicht gut?«
»Doch, doch, ich hab nur hier ein paar Schwierigkeiten«, versetzte ich und deutete auf meine Brust.
»Das ist wirklich alles?«
»Ja«, versicherte ich. »Was war das für ein
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