Gefürchtet
auf den Honda von Jesses Mutter, der in der Einfahrt stand. »Wirst du es ihr sagen?«
Er sah aus, als würde er lieber seine Haare in Brand stecken. »Ich muss. Die Polizei wird sich bei ihr nach dem Armband erkundigen.« Er öffnete die Tür und holte seinen Rollstuhl vom Rücksitz. Wir stiegen aus und steuerten das Haus an.
An der Veranda wendete er. Die beiden Stufen konnte er zwar mit ei nem Doppelschwung hinunterfahren, aber nach oben ging das nicht. Also musste ich Gabelstapler spielen. Ich stellte mich hinter ihn und packte den Rollstuhl am Rahmen. Er kippte nach hinten, drehte kräftig an den Greifrädern, und ich hievte ihn nach oben.
Ich glaube, er hasste diese Augenblicke insgeheim. Nicht, weil er als Kind in diesem Haus herumgeflitzt war und jetzt seine Freundin brauchte, um einen Höhenunterschied von vierzig Zentimetern zu bewältigen. Das war für uns beide mittlerweile kein Problem mehr. Aber jeder Besuch zu Hause erinnerte ihn daran, dass seine Eltern über drei Jahre nach dem Unfall immer noch keine Rampe gebaut hatten. Für ihn steckte eine Botschaft dahinter.
Und über das Thema reden wollten sie auch nicht. Sei ne Eltern pflegten ein eingespieltes Schweigen, wie kleine Kinder, die die Finger in die Ohren stecken, wenn sie nichts hören wollen. Verdrängen, a cappella. Darin war die Familie Blackburn gut. Dieses Lied hatte viele Verse. Jesses Behinderung war nur die neueste Strophe im Text.
Er rollte durch die kleine Diele. Zum Wohnzimmer ging es ein paar Stufen abwärts, aber der Raum mit der Wand aus Spiegelfliesen war leer.
»Ist hier jemand?« Er verlagerte das Gewicht und holperte die Stufe von der Diele zum Gang hinunter. »PJ?«
»Hier hinten, Jess«, rief eine Frauenstimme. »Ich bin am Telefon.«
Wir fanden seine Mutter im Fernsehzimmer. Es lief ein Basketballspiel zwischen zwei Studentenmannschaften. Sie hielt das Telefon ans Ohr und drückte gerade eine Marlboro aus.
»Tante Deedee«, flüsterte sie. »Wegen der Hochzeit.«
Patsy trug abgeschnittene Jeans und eine leuchtend rote Bluse. Ihre wohlgeformten Beine hingen über die Sessellehne. Sie legte die Hand über die Sprechmuschel.
»Das hier kann dauern.« Sie verdrehte die Augen. »Eine Braut, die sich nicht traut.«
Patsy erinnerte mich immer an Liz Taylor als Maggie in Die Katze auf dem heißen Blechdach. Sie besaß deren gefährliche Geschmeidigkeit und provozierende Sinnlichkeit. Der Schmollmund war sozusagen angeboren, und die Wolke aus Zigarettenqualm verlieh der Szene die nostalgische Anmutung eines weichgezeichneten Films aus den Fünfzigern.
»Ich muss mit PJ reden«, sagte Jesse.
Sie hielt ihm die Wange hin und machte einen Kussmund. Er rührte sich nicht von der Stelle. Sie lächelte angespannt in meine Richtung, um anzudeuten, dass sie diesen Stoffel von einem Sohn wirklich nicht verdient hatte, und tippte gegen ihre Wange. Jesse rollte zu ihr und streckte sich, um ihr ein steifes Küsschen zu geben.
»Er ist in der Arbeit«, sagte sie.
»Im Tierheim oder bei den Jimsons?«
Sie zuckte die Achseln und gluckste mitfühlend ins Telefon. Die Hochzeit des Sohns ihrer Schwester hatte sich zu einer Lawine entwickelt, die alles mit sich riss, einschließlich meiner Wenigkeit. Ich war in letzter Minute als Brautjungfer verpflichtet worden.
»Das Mädchen ist hypersensibel. Gib ihr ein Valium, Deedee.«
Jesse rieb die Hand fläche an seinem Bein. Mir war klar, dass er kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren und loszubrüllen, aber seine Mutter lebte selbst ständig am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Also sagte er nichts von dem Mord.
Sie schaute auf. »Ja, er und Evan sind gerade reingekommen … Ich weiß nicht, keine Ahnung, wieso er …«
Sie warf Jesse einen finsteren Blick zu und griff nach dem Cocktailglas, das auf dem Couchtisch wartete. Jesses Gesicht verwandelte sich in eine undurchdringliche Maske. Er wendete, fuhr zur Garagentür und öffnete sie.
»Mom, seine Suzuki steht hier. Bist du sicher, dass er nicht oben ist?«
Verlegen wandte ich den Blick ab. Gerahmte Fotos drängten sich auf dem Kaminsims. Es war eine PJ-Show, eine Sammlung von Fotos, auf denen er unweigerlich glücklich und sympathisch wirkte. Jesse erschien nur in einer Ecke eines Familienporträts, das angesichts all dessen, was inzwischen geschehen war, wie ein Vorwurf wirkte. Keith schien darauf weniger abgekämpft und wirkte in seinem billigen Anzug geradezu schick. Patsy lächelte stolz. Das Haus wirkte weniger
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