Gefürchtet
der Gefühle. Ich entzog ihm meine Hand nicht.
Er sah mich an. »Das hast du verdient.«
Ich war außer mir vor Glück, fühlte mich schuldig und doch auf beunruhigende Weise mit mir selbst im Rei nen - alles auf einmal. Marcs Blick wanderte zu meinem Gesicht, und er legte meine Hand zurück auf das Bett.
»Ruh dich aus. Brian und ich bleiben die ganze Nacht hier. Wir setzen uns draußen vor dein Zimmer.«
Als er verschwunden war, blieb ich lange Zeit ganz still liegen und dachte an gar nichts. Ich spürte, wie die Wirkung der Medikamente einsetzte, den Schmerz betäubte und mein Gehirn einlullte, bis mir meine gebrochenen und ausgerenkten Glieder völlig egal waren. Schließlich packte mich ein überwältigendes Schlafbedürfnis. Doch noch wollte ich mich ihm nicht überlassen. Die Schwester kam herein und fragte, ob sie etwas für mich tun könne. Das konnte sie.
Das Telefon stand außer Reichweite. Ich bat sie, Jesses Nummer für mich zu wählen.
Jesse saß am Strand. Es war kalt. Zu kalt zum Schwimmen, aber die Nähe des Wassers half ihm, einen klaren Kopf zu bekommen. Die heranrollenden Brecher schäumten weiß im rötlichen Schein der untergehenden Sonne. Er saß schon lange hier draußen.
Das Licht erstarb zu einem goldenen Schimmer auf dem Ozean. Dann setzte die kalte, blaue Dämmerung ein und verwandelte den Himmel in ein Gewölbe unendlicher Leere.
Er sah zwei Möglichkeiten. Zum einen konnte er sein Leben verebben lassen, bis es verlosch wie der Himmel über ihm. Wohin der andere Weg ihn führen würde, wusste er
nicht. Vielleicht zum Sonnenaufgang. Vielleicht zurück dorthin, wo er schon so lange vegetierte, in ein ständiges Zwielicht erfüllt von Schmerzen und Geistern, die ihn in der Nacht heimsuchten. Er wusste nicht, was schlimmer war.
Wieder und wieder rollten die Brecher heran. Als die Nacht schließlich seinen Schatten verschluckte, wandte er sich zurück zum Haus.
Ich konnte ihn nicht erreichen. Sein Festnetztelefon zu Hause klingelte immer weiter, das Handy war ausgeschaltet. Die Medikamente machten mich schläfrig, und die Augen fielen mir zu. Ich ließ meinem Bruder von der Schwester ausrichten, es unter beiden Nummern zu versuchen. Dann wurde es dunkel um mich.
24. Kapitel
Er ignorierte das Klingeln des Telefons, bis es aufhörte. Als er die Lampe einschaltete, warf die Fensterwand sein Spiegelbild zurück. Sein Haar war vom Wind zerzaust, und seine Augen blickten trüb. Was für ein Bild, hätte seine Mutter gesagt.
Das Telefon klingelte erneut. Diesmal wollte es gar keine Ruhe mehr geben. Fünfzehn, zwanzig Mal. Wer ihn kannte, wusste, dass er eine Weile brauchte, um den Apparat zu erreichen, aber so hartnäckig war kaum einer. Schließlich nahm er ab.
Lily Rodriguez klang ziemlich angesäuert. »Ihre Evan hat uns versetzt.«
Das warf ihn um. »Das kann gar nicht sein.«
»Am Hafen war sie auch nicht. Und wenn sie nicht bei Ihnen ist, steht uns jede Menge Ärger ins Haus«, sagte sie. »Die Mings sind nämlich sehr wohl zu dem Termin am Hafen erschienen. Und jetzt haben wir ei nen Einssiebenundachtzig am Hals.«
»Was? Sagen Sie das noch mal!«
»Sie haben schon richtig gehört.«
Die Wände verschwammen vor sei nen Augen. 187. Das war der Mordparagraf des kalifornischen Strafgesetzbuches.
Nicht zu Hause, nicht bei Nikki, nicht bei Lavonne. Das Mobiltelefon war nicht erreichbar. Wo konnte sie stecken?
Er rief im Fiesta Coast Motel an und versuchte es sowohl in Brians Zimmer als auch bei Marc Dupree. Überall telefonierte er herum, aber sie war nirgends zu finden. Am Ende schnappte er sich die Autoschlüssel und fuhr zum Motel.
Die Zimmer lagen im Obergeschoss, und es dauerte fünf Minuten, bis er den verflixten Aufzug gefunden hatte. Oben hämmerte er gegen die Türen und brüllte so laut, dass die anderen Gäste die Köpfe aus ihren Zimmern steckten, um zu sehen, welcher Wahnsinnige diesen Zirkus veranstaltete.
Unten auf dem Parkplatz versuchte er es noch einmal auf ihrem Handy, bevor er ins Auto stieg und den Schlüssel in die Zündung rammte. Obwohl er all mählich in Panik geriet, versuchte er, nicht die Beherrschung zu verlieren.
Aber der Gedanke ließ ihn nicht los. Ein Mann war tot, und Evan war irgendwo zwischen Cold Springs und dem Hafen verschwunden. Und die Mings hatten Marcs Pick-up gefahren, den Wagen, den er im Rückspiegel gesehen hatte, als er sie zurückließ. Konnte es noch schlimmer kommen?
Natürlich konnte er Detective Rodriguez
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