Gegen jede Regel
aber ich wollte nicht dazu beitragen,
dass Georg Werle in Schuldgefühle abdriftete.
»Wir haben durch Ihre Hilfe ein neues Bild von Tobias
gewonnen«, sagte Nina und schaute zu Elisabeth Veen. »Sie haben vorhin die
schulischen Leistungen erwähnt. Könnten Sie uns dazu noch etwas sagen?«
Die Englischlehrerin zuckte kaum merklich zusammen, als
sie angesprochen wurde. Die unerwartete Konfrontation mit dieser privaten und
persönlichen Seite ihrer Schüler hatte sie offenbar verstört. »Ich habe Tobias,
Natalie und Heike in meinem Kurs. Und alle drei sind nicht besonders gut.«
»Was heiÃt das? In Schulnoten?«
»Sie sind alle im Dreierbereich, mal besser, mal schlechter.«
Ich sagte: »Aber eine Drei ist doch nicht so schlecht?«
Frau Veen schaute mich mit einem Ausdruck an, den ich
irgendwo zwischen pikiert und gönnerhaft einsortierte. Von ihrer anfänglichen
Attraktivität war nichts mehr geblieben. »In einem Leistungskurs an unserem
Gymnasium â¦Â« Sie lieà ihre Worte ausklingen.
Ich dachte, gerade in einem Leistungskurs an einem
Gymnasium sei eine Drei doch keine schlechte Leistung, sagte aber nichts,
sondern notierte mir ein paar passende Worte zu Elisabeth Ve en.
»Wie ist denn der Notendurchschnitt in Ihrem Kurs?«
»Der Durchschnitt liegt bei eins Komma acht.« Der Stolz
in ihrer Stimme war unverkennbar. Elisabeth Veen bekam eine eigene Position in
dem Beziehungsgeflecht in meinem Notizbuch. Ich fragte mich unwillkürlich, ob
es vorstellbar war, dass die Lehrerin mit unkonventionellen Mitteln die Anzahl
ihrer Dreierschüler verringern und so den Notendurchschnitt ihres Kurses
verbessern wollte.
»War Tobias der schlechteste Schüler im Kurs?«
Frau Veen nickte. »Er gehörte zu den schlechtesten.«
»Haben Sie denn für so ⦠schlechte Schüler auch Förderangebote?«
Schulleiter Stallmann schnaubte, vielleicht um zu zeigen,
was er von Förderangeboten am Gymnasium hielt, vielleicht um zu zeigen, dass er
auch noch anwesend war.
»Normalerweise haben wir keine Angebote, unsere Schüler
sind durchweg leistungsfähig.«
»Aber �«
»Bei Tobias ist mir in den ersten Klausuren aufgefallen,
dass er ein grundlegendes Problem mit Grammatik und Satzbau hat.«
Frau Veen wurde ein wenig einsilbig und ich versuchte,
nicht zu zeigen, dass ich dem eine Bedeutung beimaÃ. »Und â¦?«
»Deshalb habe ich ein spezielles Förderangebot für ihn
konzipiert.«
»Das worin bestand?«
»In speziellem Förderunterricht.«
Ich überlegte, was das bedeuten konnte. In meinem Notizbuch
stand Elisabeth Veen neben den drei Mädchen aus der Band. Ich zog eine nicht
allzu gewagte Schlussfolgerung und sagte: »Sie meinen Nachhilfe?«
»Ich meine Förderunterricht.«
»Wer hat denn diesen Unterricht erteilt?«
»Ich.«
»Wie viele andere Schüler haben daran teilgenommen?«
»Nur Tobias.«
Ich musterte Elisabeth Veen. Obwohl ihr Magnet bei mir
nicht mehr funktionierte, blieb sie doch eine attraktive Frau mit sehr
weiblicher Ausstrahlung. Ich entdeckte einen Ehering an ihrer rechten Hand.
Wenn ich an Tobias in seinem Wohnzimmer zurückdachte, konnte ich beim besten
Willen keine Ãhnlichkeit mit Brad Pitt oder anderen Womanizern feststellen. Er
war mir wie ein unscheinbarer Teenager vorgekommen, wie sie zu Tausenden an den
Schulen herumliefen und allesamt keine Beachtung erfuhren.
Aber ich hatte ihn nicht lebend kennengelernt. Die drei
Mädchen aus der Band hatte Tobias in seinen Bann gezogen. Ich verband Jessica
und Tobias mit einer doppelten Beziehungslinie, Heike und Tobias mit einer
einfachen. Zwischen Natalie und Tobias zeichnete ich eine gestrichelte Linie
ein. Aber was musste ich zwischen der Lehrerin und Tobias einzeichnen?
Der Teilnehmerkreis war nicht der richtige, um das Thema
zu vertiefen und bei Frau Veen nach den Motiven für den Förderunterricht zu
forschen. Wir würden das später nachholen. Jetzt blieb nicht mehr übrig, als
dem Schulleiter einige abschlieÃende Fragen zu stellen. »Ist Tobias sonst
irgendwie aufgefallen?«
»Was meinen Sie?«, fragte Herr Stallmann.
»Ich meine, gab es vielleicht Probleme mit ihm, auÃer den
schlechten Englischleistungen? Gewalt, Drogen, Streitigkeiten mit anderen?«
Der Schulleiter schüttelte den Kopf. »Nein,
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