Geh nicht einsam in die Nacht
dass die ganze Sache durch einen Zufall ins Rollen kam. Pete gehörte zu den Journalisten, die sich oft in Brüssel aufhielten, ohne sich dort niederlassen zu wollen. Er galt als Experte für EU-Fragen und versuchte oft, Manner und den anderen finnischen Europaparlamentariern Unwissenheit und Inkompetenz nachzuweisen. Dass er den durchtriebenen und erfahrenen Manner eines Tages wegen eines privaten Fehltritts anprangern würde, hätte er sich wohl selbst im Traum nicht vorstellen können.
An jenem Winterabend, an dem alles begann, war Pete unterwegs nach Amsterdam, um dort Interviews zu führen. Die Züge in die Niederlande verlassen Brüssel über den Gare du Nord. Eine von Brüssels Besonderheiten besteht darin, dass der berühmteste Strich der Stadt, die Rue d’Aerschot, vom Gare du Nord aus gut einzusehen ist: In den meisten Städten liegen die Rotlichtbezirke mehr oder weniger versteckt, aber hier kann man vom Zugabteil aus die Prostituierten in ihren Schaufenstern sitzen und die Kunden durch die Straße streifen sehen.
Und genau dieser Anblick bot sich Pete Everi. Es dämmerte bereits, als sein Zug den Gare du Nord passierte und er aus alter Gewohnheit einen zerstreuten Blick auf die Straße warf. Trotz des schwachen Lichts konnte ihm dabei die hochgewachsene und kräftige Gestalt nicht entgehen, die nur im Anzug, ohne Mantel, mit zielstrebigen Schritten die Straße hinabging, um dann, als Petes Zug gerade beschleunigte, vor einem der Fenster stehen zu bleiben und der Frau, die dort auf ihrem Stuhl saß, ein Zeichen zu geben.
In diesem Augenblick begannen Petes Nachforschungen, und hinterher meinte er zu mir, die Sache sei fast schon lächerlich einfach gewesen. Die Spur sei breit und tief und taufrisch gewesen, er habe sich bloß von einem Beweis zum nächsten hangeln müssen.
Ich rekapituliere Jouni Manners politischen Untergang hier nur in groben Zügen. Da ich diese Zeilen schreibe, sind bereits wieder fünf Jahre vergangen, aber wer sich auf dem Laufenden hält, erinnert sich mit Sicherheit an die zahlreichen pikanten und ein wenig schmuddeligen Details, die für die Medien ein gefundenes Fressen waren. Da es sich um einen Europaparlamentarier handelte, erregte der Fall auch in den anderen EU -Ländern Aufmerksamkeit. In katholischen Ländern wie Frankreich und Italien sorgte es für eine gewisse Erheiterung, dass ausgerechnet ein Mann aus dem protestantischen Norden ertappt worden war. Das katholische Lachen verstärkte den Hass auf Manner in Finnland noch zusätzlich. Er hatte das heilige Finnlandbild in den Schmutz gezogen, zu dem die Arbeitsgruppen des Außenministeriums allwöchentlich Sitzungen abhielten.
Die wichtigsten Züge der so genannten Manner-Affäre waren folgende:
Es bereitete Pete keine große Mühe, die Frau ausfindig zu machen, zu der Manner an jenem Winterabend gegangen war, es handelte sich um eine große, etwa dreißigjährige Ungarin, die sich Karen nannte. Karen war allerdings nicht weiter wichtig, Manner ging nur zu ihr, wenn seine reguläre Begleiterin nicht verfügbar war. Das mit der »regulären Begleiterin« ließ Pete Everi aufhorchen, und zu seinem Glück kannte Karen die fragliche Frau. Diese Begleiterin stehe mehrere Stufen über den Schaufensterhuren, erläuterte Karen Pete, aber auch sie selbst sei einmal eine solche Begleiterin gewesen. Pete benötigte einige Tage, um die Begleiterin aufzuspüren. Sie nannte sich Marie, sprach fließend vier europäische Sprachen und erklärte, sie studiere »irgendwo«. Sie war mitteilsam und blitzgescheit, darüber hinaus war sie klein, zierlich, hatte dichte, kastanienbraune Haare und ein strahlendes Lächeln, das seltsam unangetastet von dem Leben zu sein schien, das sie führte. Pete und ich sprachen nur ein einziges Mal über seine Recherchen, bei einem Mittagessen im Sommer, als alles vorbei war, und Pete gestand mir, dass er sich in diese Marie bereits verliebt hatte, als er sie nur in einem Café interviewte.
Manner wohnte in einer Eigenheimsiedlung knapp zehn Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Wie sich herausstellte, hatte Marie oft bei ihm übernachtet, phasenweise hatte sie praktisch bei ihm gewohnt, er buchte sie so oft und so lange, wie es nur ging. Marie hatte nur Gutes über »Monsieur Manière« zu sagen, sie meinte, er sei ein Gentleman und habe sie gut behandelt und ihr viele Geschenke gemacht. Aber das nützte alles nichts. Als Pete seine Enthüllungen veröffentlichte – er beschloss, seinen Scoop der
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