Geh nicht einsam in die Nacht
Ariel wusste genau, warum sie sich so ins Zeug legte: Aus ihr sprach das schlechte Gewissen. Sie hatten kein Wort miteinander gewechselt, sich nicht einmal einen »Guten Morgen« gewünscht, und sahen sogar weg, damit sich ihre Blicke nicht begegneten, aber Ariel erkannte natürlich trotzdem, dass Lydia benebelt und verlebt aussah. Sie haben gestern wieder seit dem frühen Nachmittag bis zur Sperrstunde im Oiva gesessen. Lydia und er standen in der Küche dicht nebeneinander, und Ariel hörte schwere Atemzüge und von Zeit zu Zeit ein lautes Schnarchen aus dem großen Zimmer, wo ein Wandschirm Lydias Schlafzimmerhälfte von einem gemeinsamen Teil mit Esstisch, Stühlen, einem Büfett und auf dem Büfett einem Radio und einem billigen transportablen Plattenspieler, der unbrauchbar war, solange Ariel sich erinnern konnte, abtrennte. Das Schnarchen kam von Björk. Er hing noch immer bei ihnen herum, mittlerweile schon seit acht Monaten, mit einer Art regelmäßiger Unregelmäßigkeit tauchte er bei ihnen auf. Dabei war Björk ein Säufer und Schläger, der sich sogar noch schlimmer benahm als Näätänen und Lindström und Savikko und wie sie alle hießen, und Ariel begriff nicht, was Lydia in ihm sah. Vielleicht war es nur das simple Detail, dass Björk zufällig den Restaurantleiter im Oiva kannte, wodurch Lydia und er dort den ganzen Abend sitzen und trinken konnten: Falls Inspekteure vorbeikamen, eilte augenblicklich ein Kellner mit Tellern und Besteck zu ihrem Tisch und versicherte mit diskretem Augenzwinkern, dass die Zwiebelsteaks der Herrschaften jeden Moment kommen würden. Und wenn Björk und Lydia dann den kurzen Weg nach Hause taumelten und Björk bei ihnen übernachtete, entstand eine Art Gleichgewicht des Schreckens, das auch Ariel zugutekam: Wenn alle drei in der Wohnung miteinander auskommen sollten, durfte Björk es nicht wagen, Lydia zu schlagen, und Ariel fragte Lydia im Gegenzug nie, wann sie beabsichtige, Björk hinauszuwerfen, und Lydia wollte ihrerseits nicht von Ariel wissen, wann er vorhabe, sich einen richtigen Job zu suchen.
Kurz nach neun überquerte Ariel die Långa-Brücke in Richtung Stadtzentrum. Es war ein rauer und feuchter Tag, die Schneedecke schrumpfte mittlerweile schnell, und an vielen Stellen floss das Schmelzwasser in kleinen Bächen die Straßen hinunter. Er hatte sein Lieblingshemd angezogen, das gelbbraune, breit gestreifte, und versuchte den Wind zu ignorieren, der den Weg unter seine kurze Lederjacke und das Hemd fand, er war eindeutig zu dünn angezogen. Er ging zum Järnvägstorget, nahm anschließend die Mikaelsgatan und versuchte, an angenehmere Dinge als Wind und Nässe zu denken.
Stenka Waenerberg hatte ihnen im Bulevardia keinen Aufnahmetermin genannt. Er hatte nicht einmal sagen können, in welcher Woche es so weit sein würde, nur so viel, dass die Chefs von Sonovox ihm Studiozeit im Mai versprochen hatten und die Single rechtzeitig zum Sommer erscheinen würde. Ariel hatte seit längerem Geld gespart und sich jede Nacht vor dem Einschlafen Wachträumen über das Ziel seines Sparens hingegeben: eine Hagström-Gitarre, eines der neueren Modelle, eine Kent oder Impala oder Corvette. Es war der 19. März, und Ariel fand, dass es an der Zeit war, zuzuschlagen. Es blieben ihm noch mindestens anderthalb, vielleicht sogar zwei Monate, bis sie ins Studio gingen, und er war überzeugt, dass er bis dahin lernen würde, die elektrische Gitarre zu beherrschen. Im Laufe der Jahre hatte er unzählige E-Gitarren probegespielt, in einschlägigen Geschäften und bei den wenigen Musikern, die er kannte, und meistens war es leicht gewesen, auf ihnen zu spielen. Seine Levin hatte ein dickes und breites Griffbrett, sie war schwer zu spielen, und die Jahre mit dem widerspenstigen Instrument hatten Ariel eine Technik beschert, die unorthodox, aber überraschend sicher war.
Eine gute Stunde später war Ariel Besitzer einer schwarzen Hagström Impala und eines kleinen Verstärkers der unbekannten Marke Morris. Der Kauf wurde in keinem der großen Musikgeschäfte getätigt, sondern in einem der weniger seriösen An- und Verkaufläden am oberen Ende der Stora Robertsgatan, wo die Straße einer Felswand auswich und zur Stenhuggaregatan wurde.
Die Impala konnte man sich nicht im Geschäft anschauen. Sie wurde im Hinterzimmer in einem Schrank verwahrt, sie hatte schon lange unter der Hand zum Verkauf gestanden, und Ariel kannte den Grund: Die Gitarre war der schwedischen Gruppe Tommie & The
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