Geh nicht einsam in die Nacht
früherer Adept so ohne jeden Ehrgeiz und Willen war, er war enttäuscht, weil Ariel keinerlei Interesse daran hatte, sein Talent zu versilbern. Außerdem kam Ariel gelegentlich in einem Mischrausch ins Northern Light, und dann verstand Stenka kaum, was er sagte. Er betrachtete Ariel mittlerweile als Abschaum und ertrug es nur mit Mühe, ihn überhaupt im Geschäft zu sehen. Als er Ariel an einem Dienstag einige Wochen vor Weihnachten ansprach, war sein Ton deshalb kalt und überheblich:
»Addi hat vor ein paar Tagen nach dir gefragt. Habt ihr immer noch kein Telefon?«
Ariels Miene hellte sich auf, und er legte die Spencer-Davis-Platte fort, auf der er getrommelt hatte. Addi hatte ihm gefehlt.
»Nee, aber wir haben ein neues bekommen. Björk hat es besorgt.«
»Schön, gib mir die Nummer, dann gebe ich sie an Addi weiter. Oder du rufst mich heute Abend an. Sie meinte, sie wolle dich um einen Gefallen bitten.«
»Worum g-geht’s?«, erkundigte sich Ariel.
»Ich habe keinen Schimmer. Du wirst sie schon selbst fragen müssen.«
Als Adriana anrief, hatte sie ein seltsames Anliegen. Sie erzählte Ariel, dass ihr Studium nicht besonders gut laufe und sie den ganzen Herbst als Mannequin gearbeitet habe. Nun habe sie einen Fototermin bei Karnow – viele Aufträge seien von ihm gekommen, erläuterte sie –, und sie wolle, dass Ariel sie in sein Studio begleite. Anschließend könnten sie dann ins Kino gehen, sich etwas Spannendes ansehen, »Cul-de-Sac« zum Beispiel, der sei gerade im Corona angelaufen.
»Warum willst du mich dabeihaben?«, fragte Ariel.
»Weil ich dich schon so lange nicht mehr gesehen habe«, antwortete Adriana flehentlich. »Und Ari … Es tut mir leid, dass ich so sauer gewesen bin.«
»Ich mag K-Karnow nicht«, sagte Ariel, »ich kann ihn nicht ausstehen.«
»Du sollst dich ja auch nicht mit Karnow treffen«, erwiderte Adriana sanft. »Sondern mit mir.«
In Ariels Gehirn blitzte ein Bild auf. Graues Morgenlicht, die aufgewühlte Bucht, der Wind, der vor dem Fenster pfiff, Adriana unter ihm ganz ruhig und ernst, und er bewegte sich immer schneller und hörte sie sagen, »ja, ja, komm, komm einfach«, und dann konnte er sich nicht mehr beherrschen.
»Na, dann komme ich wohl mal«, hörte er sich ins Telefon sagen: Eine Sekunde später erkannte er, dass er Gegenwart und Vergangenheit miteinander vermischt hatte.
Ariel war nur einmal zuvor in Karnows Studio gewesen, im Frühling, als man sie dorthin bestellt hatte, um sich die Werbefotos anzusehen. Das Studio war größer, als er es in Erinnerung hatte, kahler, nackter, mit höherer Decke. Und nackt war auch Adriana, zumindest fast, zumindest auf manchen Bildern. Karnow trieb sie härter an, als Ariel sich das jemals hätte vorstellen können, es gab keine Ruhepausen, sie ging nur in die kleine Kabine und zog die nächsten Kleidungsstücke an und kam wieder heraus, und Karnow spornte sie laufend an, ein bisschen kühner, ein bisschen provozierender zu werden, etwas mehr Haut zu zeigen. Dabei ging es nicht einmal um Fotos von Bikinis oder Dessous: Es ging um einheimische Mode, eine Frühjahrskollektion, nicht Marimekko oder Vuoko oder eine der anderen großen Firmen, sondern um junge, aufstrebende Talente.
»Ariel, komm her!«, rief Adriana plötzlich. Sie trug ein weißes, mit unregelmäßigen roten Figuren verziertes Kleid, das kurz und eng war, und wo das Rot nicht verhüllte, war der Stoff dünn und durchsichtig, und Adrianas Konturen waren deutlich zu erkennen, auch Po und Brüste. Karnow hatte sie angewiesen, auf einem schwarzen Samtdiwan auf der Seite zu liegen. Sie stützte sich auf den Ellbogen und posierte und spitzte, eifrig angefeuert vom Fotografen, die Lippen. »Spöttisch!«, hatte Karnow gerade ausgerufen, »ich will, dass du spöttisch und rebellisch bist, ein junger Mensch, der sich nimmt, was er haben will.« Er war zu Adriana gegangen und hatte ihren freien Arm in einen anderen und besseren Winkel gelegt und gleichzeitig seine Hand über ihren Rücken gleiten lassen und um ihre Taille gelegt.
»Sam«, sagte Adriana, »Ariel könnte es doch auch mal probieren, nicht? Er sieht gut aus, sein Gesicht muss nur richtig beleuchtet werden, kann ich nicht auf ein paar Bildern einen Partner bekommen?«
Karnow ließ Adrianas Taille los und richtete sich auf. Schon als er die Studiotür geöffnet und gesehen hatte, dass sie Ariel im Schlepptau hatte, war es ihm sichtlich schwergefallen, seine Enttäuschung zu verbergen. Er hatte
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