Geh nicht einsam in die Nacht
bedeutet Sackgasse. Das stand doch auf den Plakaten, warum bemerkst du so etwas nie?« Adriana klang zerstreut, und Ariel nahm an, dass sie noch in der Welt des Films verharrte. Sie seufzte kurz und ergänzte: »Wie schön sie ist!«
»Wer? Dorléac?«, sagte Ariel und musste husten, als er die eiskalte Luft einatmete. »Stimmt, sie ist hübsch. Aber hast du den Film kapiert?«
»Na ja«, erwiderte Adriana. »Ich weiß nicht … es ist wohl ein bisschen wie bei Beckett. Du weißt schon, man wartet auf jemanden oder etwas, aber er oder es kommt nie.«
»Ich habe Beckett nicht gesehen«, murmelte Ariel. »Ich weiß nicht einmal, wer das ist.«
Ariana biss sich auf die Lippe und senkte den Blick. »Das spielt keine Rolle«, sagte sie schnell. »Zu verstehen heißt ja nicht … man kann auf so viele verschiedene Arten verstehen. Mit dem Gefühl. Mit dem Blick. Denn was heißt verstehen wirklich ? Es bedeutet nicht, dass man in seinem Kopf alles in säuberliche Fächer eingeordnet hat.«
Die Linie vier kam, und sie stiegen ein. Der Wagen war so gut wie leer. Sie setzten sich nebeneinander. Ariel stieg der Duft von Adrianas Parfüm in die Nase, er war nicht aufdringlich, sondern leicht und subtil, und er hatte Lust, etwas darüber zu sagen, dass sie miteinander geschlafen hatten und er es schön fände, wenn es wieder passieren würde. Er öffnete den Mund, aber die Worte stellten sich nicht ein wie geplant:
»Ich vermisse das S-Singen.«
»Ich auch, Ari, ich auch«, sagte Adriana zögernd. »Hast du Jone getroffen?«
»Nicht oft. Zwei Mal im Colombia. Er nimmt sich in letzter Zeit sehr wichtig.«
»Grüß ihn von mir, wenn du ihn siehst.«
»Sicher.« Er zögerte. »Addi?«
»Mmm.«
»Glaubst du, dass wir wieder zusammen s-singen werden? Wir drei?«
»Ich weiß es nicht. Man wird sehen.« Adriana biss sich auf die Lippe, wie sie es neuerdings oft tat, und sagte: »Ich will noch nicht nach Hause. Sollen wir ein bisschen auf der Esplanade spazieren?«
Sie gingen im Esplanadenpark eine Weile auf und ab, bis zum Restaurant Kapellet hinunter und wieder zurück, zwei, drei Mal. Die meiste Zeit sprach Adriana. Sie sagte, es sei viele Wochen her, dass sie einen klaren Tageshimmel gesehen habe, nicht den kleinsten Zipfel, wenn überhaupt, reiße die Wolkendecke nur nachts auf. Das Grau und die Kälte machten sie verrückt, sagte sie, sie wolle woanders leben, nicht in Finnland. Ihre Großmutter habe gesagt, so dunkel sei es seit dem Kriegswinter 1914 nicht mehr gewesen, ob das ein Zeichen dafür war, dass der dritte Weltkrieg kurz bevorstand, was meinte Ariel? Ariel wusste nicht, was er antworten sollte, er dachte doch nie ans Wetter, sondern saß in seinem Zimmer und schrieb Lieder oder hing in Plattenläden herum: Wolken oder Sonne, das war ihm völlig egal. Und das mit den Weltkriegen … das war so typisch für Adriana, sie dachte immer an große Dinge, er nie. In Ariels Innerem pochte immer noch der Wille zu bekennen, aber er konnte sich nicht dazu durchringen. Traute sich nicht. Er wollte nicht verschmäht werden, nicht gezwungen sein, zum kalten Wintermond von Helsingfors aufzublicken, wie er es als Kind so oft getan hatte, wenn er die stachligen, zerrissenen Wolken betrachtet hatte, die rastlos am Himmel vorübertrieben, genauso einsam und absichts- und sinnlos auf ihrem Weg wie er. Als sie zum dritten Mal vor dem Schwedischen Theater standen und die Geschäftsmänner und ihre in Pelze gehüllten Frauen aus dem Royal kommen sahen, beugte Adriana sich vor, küsste ihn flüchtig auf die Wange und sagte:
»Jetzt gehe ich nach Hause, Ari. Danke, dass du heute mitgekommen bist.«
Ariels Augen folgten ihr und sahen sie immer kleiner und schmaler werden, als sie den Anstieg hinaufging. Dann erreichte sie die Kuppe, setzte ihren Weg in südliche Richtung fort und verschwand. Ariel kehrte in den dunklen Esplanadenpark zurück, stand unter den schneebedeckten Bäumen und kämpfte gegen das nagende Gefühl an, dass Adriana und er in dieser Stadt vollkommen verloren waren, obwohl sie ihr ganzes Leben in ihr verbracht hatten. Er schaute zum Boulevard hinüber und bemerkte, wie schön er in der Winternacht war. Sein Aussichtspunkt lag tiefer, wodurch eine optische Täuschung entstand und es den Anschein hatte, als würde der hell erleuchtete Boulevard nicht zum Sandvikens torg und Westhafen hinab, sondern eher aufwärts führen, eine Lichtbrücke, die Kurs auf Sterne und Himmel nahm. Ariel blieb lange stehen und starrte
Weitere Kostenlose Bücher