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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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Koordinaten und Entfernungen zu bekommen. Er sah die Meeresbucht, die vor ihm lag, und den kleinen Fischerhafen auf der anderen Seite der Bucht. Er sah die Halbinsel – die Ebene –, auf die er hinausgefahren war, und die langgestreckte Landzunge, die südöstliche Spitze, zu der er unterwegs war. Er sah den Leuchtturm am äußersten Punkt der Landzunge, er sah die Seezeichen außerhalb der Bucht und die Fischkutter, die schon ausfuhren, obwohl es kaum später als vier Uhr sein konnte. Und er sah die üppigen und vom Sturm umgestürzten, aber trotzdem zäh weiterlebenden Wacholderbüsche, die er für Trolle oder Wölfe gehalten hatte. Die bösen Wachtposten der Ebene.
    Und dann sah er den Morgen kommen und in einer Landschaft eintreffen, die für ihn die schönste war, die er je gesehen hatte. Die flache Landspitze schob sich weit ins Meer hinaus, so weit, dass das Ufer ins Meer überging, ohne dass es eine Grenze zwischen den Elementen zu geben schien. Aus der Ferne betrachtet schienen der Leuchtturm und die ihn umgebenden Gebäude – ein Leuchtturmwärterhaus und ein paar Schuppen – mitten im Meer zu stehen, aber der Schein musste trügen, denn zwischen den Gebäuden standen sowohl Fliederbüsche als auch einige größere Laubbäume. Die Sonne stieg immer höher, und das Meer umgab ihn zu allen Seiten, seine Farbe changierte, seine silbrigen und rötlichen Dämmerungsnuancen wurden von Goldfransen und Sonnengrün und allmählich auch, als der Himmel seine Tagesfarbe angenommen hatte, von Dunkelblau ersetzt. Vom Meer her wehte gerade so viel Wind, dass die Wellen gluckerten, wenn sie gegen die Steine schlugen, und über dem Ufersaum flogen Möwen und schrien Seeschwalben und stürzten sich plötzlich zur Wasseroberfläche hinab, wo ein Schwarm kleiner Fische gelegentlich die Oberfläche perlen ließ. Dünne rote, gelbe und blaue Blumen reckten ihre Blütenköpfe zwischen den Wacholderbüschen und trockenen Sträuchern der Halbinsel, kleine Vögel zwitscherten und piepsten, und weiter innen in der Bucht schlug ein großer Fisch bei der Jagd mit seiner Schwanzflosse. Ariel wurde bewusst, dass ihm für den Reichtum, den er vor Augen hatte, nur dürftige Worte zu Gebote standen: Er konnte diesen Überfluss an Leben nicht benennen. Er wusste nicht, wie diese roten, gelben und blauen Blumen hießen, er kannte die Namen der Singvögel nicht, wusste nicht, welche Laubbäume neben dem Leuchtturm wuchsen, und auch nicht, welche Fische direkt unter der Oberfläche schwammen. Er hörte Stimmen und sah Menschen, die sich auf dem Hof vor dem Leuchtturmwärterhaus bewegten, und er hörte andere Stimmen und begriff, dass sie vom Meer herüberschallten: In dieser stillen Morgenstunde konnte er die Fischer sprechen hören, während sie ihren Fang einholten, ihre Stimmen ertönten wie ein leises Murmeln über dem schwachen Leerlauftuckern der Zweitaktmotoren. Plötzlich erkannte Ariel, dass er dies alles genoss, dass er in diesem Augenblick mit seinem Leben zufrieden, ja sogar glücklich war, und als er sein Gedächtnis durchforstete, musste er ein Jahr und zwei Monate zurückgehen, bis er auf ein vergleichbares Gefühl stieß: Etwas Ähnliches hatte er an jenem Nachmittag empfunden, als Addi, Jone und er Geh nicht einsam in die Nacht aufgenommen hatten. »Ich bin auf einem verdammt guten Trip, einem verdammt guten«, murmelte er vor sich hin. Er wusste es nicht besser, als dem Haschisch zu danken, es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, dass die Umgebung im Einklang mit seinen eindeutig eigenen Körpersubstanzen dafür sorgte, dass er sich so wohlfühlte. Außerdem war es ihm egal. Wichtig war vor allem, dass die Angst von ihm wich und er vergessen konnte, was Virta ihm über seinen verschwundenen Vater erzählt hatte, und dass er die Gedanken vergessen konnte, die dies über sein eigenes Leben wachrief: Ariel musste bereits viele schwierige Bilder mit sich herumschleppen und konnte auf weitere gerne verzichten. Aber eins hielt er dennoch wie ein Banner vor sich hoch, eine von Virtas Aussagen wiederholte er innerlich immer wieder, als er dort auf seinem Stein saß. Musiker. Ein wirklich guter, wenn ich mich recht erinnere. Kein zerrütteter Krieger, kein Vater, der abgehauen war, kein Verräter. Sondern ein Musiker, ein wirklich guter, wenn ich mich recht erinnere. Die Worte wurden zu einem Mantra, zu einer Formel, die man unendlich oft wiederholen konnte und die einen bei Laune hielt.
    Am Ende wich der Zauber dann allmählich.

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