Geheimnisvoll wie der Orient
Ähnlichkeit zu den anderen Männern allerdings auch schon auf. Auch ohne die respektvollen Verbeugungen war für jeden Fremden sofort ersichtlich, dass es sich um einen mächtigen Mann handelte. Seine Haltung, sein Blick, alles drückte seine gehobene Stellung aus. Dasselbe gilt für Tair, wurde Molly in diesem Augenblick bewusst. Auch bei ihm war nicht sein Titel der Grund dafür, dass die Menschen ihn respektierten und in schwierigen Situationen seinen Rat suchten. Doch an wen wandte sich Tair, wenn er einmal einen persönlichen Rat brauchte? Für einen dominanten Mann wie ihn war das sicher nicht einfach. Das sind eben die Schattenseiten der Macht, dachte Molly.
Der Neuankömmling war nicht mehr jung. Sein tatsächliches Alter ließ sich jedoch nur schwer schätzen. Sein dunkelhäutiges, von Falten durchzogenes Gesicht schien nicht zu seiner aufrechten Haltung und seinem jugendlichen Gang zu passen. Und selbst aus der Entfernung spürte Molly die unbändige Energie, die von ihm ausging.
Machtfülle und Kraft war aber nicht alles: Maßloser Zorn und Missbilligung zeigten sich in seinem Gebaren.
Die vier kräftig gebauten Männer gruppierten sich um ihn herum und blickten aufmerksam in alle Richtungen, als hielten sie nach versteckten Feinden Ausschau. Die Gewehre über ihren Schultern beunruhigten Molly am meisten. Zu ihrer Erleichterung zielten die Männer damit auf niemanden, sondern verbeugten sich sehr tief und ehrfurchtsvoll vor Tair, der den Gruß mit einem Nicken erwiderte und etwas in seiner Muttersprache zu ihnen sagte.
Fragend sahen sie daraufhin den Älteren an. Der nickte fast unmerklich, als würde er Tair zustimmen. Dann ging er langsam auf sie zu und blieb wenige Schritte vor Tair und Molly stehen.
Tair stellte sich vor Molly.
Wollte er sie vor dem kritischen Blick des Besuchers schützen? Sie hielt es für wahrscheinlicher, dass Tair ihre Anwesenheit unangenehm war. Vielleicht verstand er nun, was sie ihm vergeblich zu erklären versucht hatte, nämlich dass sie nicht in seine Welt passte.
Ich sollte mir ein dickeres Fell zulegen, dachte sie. Sie wusste schließlich, dass er sich nur sexuell von ihr angezogen fühlte. Der Gedanke durchzuckte sie scharf wie ein Messerstich.
Kämpferisch hob sie das Kinn. Sie würde vor diesen Männern nicht klein beigeben. Schließlich hatte sie nichts verbrochen. Schämen musste sie sich nur für ihre Dummheit. Hatte sie doch geglaubt, Macht über ihre Gefühle zu haben und diese Affäre genießen zu können, ohne sich zu verlieben. Dafür bezahlte sie nun den Preis.
Sie trat aus Tairs Schatten und sagte, ohne ihn anzublicken: „Es tut mir leid, dass du dich für meine Anwesenheit schämst. Aber ich werde mich nicht verstecken, damit du vor deinen Freunden das Gesicht wahren kannst.“
Tair murmelte eine heftige Verwünschung, packte sie bei den Schultern und drehte sie zu sich.
Molly hatte sich bisher nicht vorstellen können, dass er in der Lage sein könnte zu erröten. Nun wurde sie eines Besseren belehrt. Tatsächlich überzog eine tiefe Röte seine Wangen.
„Du glaubst, ich schäme mich für dich?“, fuhr er sie an, als wären sie allein und ohne Zuschauer. „Das Einzige, wofür ich mich schäme, ist diese Entführung und was danach geschah.“
Sie vernahm den Selbstvorwurf in seiner Stimme, und im Bruchteil einer Sekunde schmolz jeglicher Selbstschutz in ihr dahin. Die Tiefe ihrer Gefühle für ihn stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie zärtlich die Hand auf seine Wange legte. „Alles, was danach kam, geschah freiwillig und mit freudigem Herzen.“
Er atmete geräuschvoll ein, zog sie zu sich heran und küsste sie tief und lang.
Sein Kuss war besitzergreifend und zärtlich zugleich. Und als er schließlich den Kopf hob, schimmerten Tränen in ihren Augen. Eng umschlungen verharrten sie bewegungslos und sahen sich an. Tair strich ihr durchs Haar und streichelte ihren Nacken, bis sich die Anspannung in ihr löste.
Dann trat er einen Schritt zurück und atmete tief durch. „Komm!“
Einen Moment lang zögerte Molly, dann ergriff sie seine ausgestreckte Hand und überließ sich seinem warmen, festen Griff.
Es dauerte eine Weile, bis sie die Benommenheit abgeschüttelt hatte, die sie nach dem unerwartet stürmischen Kuss überkommen hatte. Dann blickte sie hinüber zu dem schweigsamen Besucher, der sie die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte. Während der heftigen Umarmung hatte sie seine Anwesenheit völlig vergessen und
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