Gehetzt - Thriller
bemühte sich, Gails Tun so gut wie möglich zu ignorieren. Als Gail sich erhob, Diane den Rücken zukehrte und in ihre Hose langte, um die Klinge hervorzuholen, sagte Diane: »Wenn ich könnte, würde ich einen kleinen Spaziergang machen, aber das geht ja leider nicht. Also mach einfach weiter, was du zu tun hast. Ich bin blind. Ich sehe nichts.«
Definitiv genau die richtigen Worte. Nicht dass Gail eine andere Wahl gehabt hätte als weiterzumachen und zu tun, was sie zu tun hatte. Trotzdem war sie beeindruckt. Sie legte sich hin, schob das Rasenmäherschneideblatt in das Innere der Matratze und zog das Laken darüber. Die aufgetrennte Naht würde sie später wieder zunähen, nach dem Abendessen, wenn Diane einen kleinen Spaziergang machen konnte und ihre eigenen Hände nicht mehr zittern würden, als wäre sie im Delirium tremens.
Und sobald Diane bei der Arbeit wäre und Gail allein in der Zelle, würde sie ein anderes Versteck für die Klinge finden. Nicht dass sie vorhatte, sie sehr lange zu verstecken.
Sie musste darauf achten, wohin sie trat, wenn sie sich kei ne Fußknöchelverletzung zuziehen wollte. Die Laufbahn, ein Vierhundert-Meter-Oval, das den großen Hof umgab, hatte jede Menge Löcher und war dreckig und holprig, aber Gail lief fast je den Abend und hatte die Bahn ganz gut im Griff.
Sie wusste, wo die schlimmsten Fallgruben waren. Und heute Abend musste sie definitiv laufen. Danach würde sie Hillary ausfindig machen und ihr auf den Zahn fühlen, ob sie be reit war, diesem beschissenen Ort Adios zu sagen. Das Problem war, dass Hil lary ein Kurz zeit-Knacki war, re lativ gesehen. Sie hatte achtundreißig Monate abzureißen. Eine fehlgeschlagene Flucht bedeutete fünf Jahre zusätzlich zu ihrer Strafe. Gail war sich nicht sicher, ob Hillary bereit war, eine derart drastische Strafe zu riskieren, selbst wenn sie eine be kennende Freundin des Risikos war.
Sie atmete im Rhythmus ihrer Schritte aus, eins, zwei, drei vier - ein, eins, zwei, drei, vier. Leicht und locker, immer im Einklang mit ihrem Laufschritt. Sie würde sich nicht verausgaben und erst auf den letzten vierhundert Metern einen Sprint hinlegen. Als sie am Softball-Fangzaun vorbeilief, einem zusammengeschusterten Metallgitterprovisorium und zwei im pas senden Winkel zu beiden Seiten aufgestellten Holztribünen, unterbrach eine Frau, die sich gerade aufwärmte, um ein paar Bälle zu schlagen, ihre Schwingübungen mit dem Schläger und sah Gail hinterher. Gail ignorierte sie und hielt den Blick starr auf die vor ihr liegende Bahn gerichtet, selbst als sie hör te »hübscher Körper«. Sie wollte und brauchte keine Komplikationen, am wenigsten jetzt.
Gail lauschte ihren Tritten auf der harten, schmutzigen Bahn. Horchte auf den Rhythmus, das Muster. Sie versuchte zu bestimmen, ob die Tritte laut waren oder leise oder ob die Lautstärke irgendwo dazwischen lag. Genau jetzt waren sie über den Lärm hinweg kaum zu hören: über die Rufe und das Gelächter, das Wutsch eines Basketballs, das Ping eines von einem Aluminiumschläger abprallenden Softballs, den Applaus bei einem gelungenen Schlag. Parkgeräusche. Spielende Menschen. Sie sah hinab auf ihre Füße, die die Bahn entlangtrabten. Gail lief wie eine Athletin. Das Laufen hielt sie hier
drinnen gesund, oder zumindest annähernd gesund. Sie musste laufen können und tat es mit geradezu religiösem Eifer, außer wenn der Hof geschlossen wurde. Wie vor ein paar Jahren, als sie den Belag der Laufbahn erneuert hatten und mit haufenweise herbeigekarrter Erde von dem Bereich hinter der Krankenstation die Löcher aufgefüllt und die Bahn gleichmäßig und weich gemacht hatten. Ein paar Tage hatte Gail es genossen, ihren Zweihundertmeter-Schlusssprint ohne Sorgen um etwaige Schlaglöcher hinlegen zu können. Und dann hatten die Gefängnisoberen entdeckt, dass die Erde, die sie benutzt hatten, mit illegal entsorgten Medizinabfällen verseucht war, inklusive höchst begehrter Spritzen. Gebrauchter Spritzen natürlich, aber man konnte sie ja notdürftig reinigen. Ein wahres Schmuggelwarenparadies für die Junkies. Aber die Läufer waren alles andere als erfreut gewesen, als die Aufseher den großen Hof zum zweiten Mal innerhalb eines Monats dichtgemacht hatten, diesmal, um die spritzenverseuchte, verunreinigte Erde wieder abzutragen und fortzuschaffen.
Inzwischen lief Gail gewöhnlich jeden Sonntag tausendsechshundert Meter, jeden Montag zweitausendvierhundert Meter, legte an jedem weiteren Tag
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